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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Schritte erklangen. Eilig blickte er sich nach einem Versteck um, entdeckte eine halboffene Tür zu einem Nebenraum und lief rasch darauf zu. Er leuchtete hinein, um nicht erneut in eines der Schattennester zu geraten, sah flüchtig eine weitere Figur auf einem Sockel, trat ein und lehnte die Tür hinter sich an.
    Fast im selben Augenblick wurden draußen die Deckenlampen eingeschaltet.
    Mit einem Auge blickte Gillian durch den Spalt und sah einen jungen Mann, dunkelhaarig und gutaussehend. Er trug ein weißes Hemd, das ihm über den Hosenbund hing, und Gillian meinte einen Hauch von Parfüm wahrzunehmen.
    Adam Octavian schaute sich suchend auf einem der Tische um, nahm einen Pinsel aus weichen Federn und trat damit vor die Wachsfigur des nackten Mädchens. Behutsam staubte er ihr Gesicht damit ab, dann die Kuppen ihrer Brüste, den flachen Bauch und ihre schlanken Schenkel. Zuletzt trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk mit einem Ausdruck, der gleichermaßen Zufriedenheit und Zweifel bekundete.
    Gillian fiel auf, dass ein Schlüssel außen auf der Tür steckte. Er hätte sie ein wenig weiter öffnen und danach greifen können,
aber gerade jetzt wandte Adam sich in seine Richtung und schien erneut nach etwas Ausschau zu halten.
    Noch einmal blickte Gillian sich in der kleinen Dachkammer um und konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Lampenschein auf die einzelne Figur zu richten, die sich hier auf ihrem Sockel erhob.
    Der Anblick der wächsernen Züge lähmte ihn mehrere Herzschläge lang. Unmöglich. Er hatte nicht erwartet, dieses Gesicht in seinem Leben ein zweites Mal zu sehen.
    Langsam näherte er sich der Gestalt. Sie war nicht unvollendet wie die beiden in der Werkstatt, sondern musste aus einem anderen Grund in diesem Nebenraum errichtet worden sein.
    Erst jetzt fiel ihm auf, dass es sich keineswegs um eine Abstellkammer handelte. Das Zimmer, vier mal vier Meter im Quadrat, war leer bis auf die Wachsfigur. In der Decke gab es eine runde verglaste Öffnung zum oberen Dachgeschoss, durch die bei Tag Helligkeit genau auf die Figur fallen musste. Gillian stellte sich vor, wie der allgegenwärtige Staub im Licht tanzte und eine flirrende Säule rund um die Gestalt auf dem Sockel schuf.
    Die Züge waren um einiges jünger, als Gillian sie in Erinnerung hatte, die Augen wacher, irritierend in ihrer Schärfe und Klarheit. Der Anschein von Lumineszenz war verblüffend; der alte Piobb hätte keine bessere Arbeit leisten können.
    Er hob die Lampe noch näher an das Gesicht, betrachtete fasziniert die Struktur der Haut und das eingenähte Haar. Hier gab es keine Spinnweben, keinen Schmutz, der sich zwischen den Lippen oder auf der Stirn angesammelt hatte. Alles war von penibler Sauberkeit, als wäre die Figur gerade eben erst auf ihren Sockel gestiegen und dort erstarrt.
    Da wurde ihm klar, dass dies ein Schrein war, Versteck und Heiligtum zugleich.
    Hinter ihm erklang ein Lachen. Gillian fuhr herum, riss den Revolver hoch – aber die Tür war noch immer angelehnt.

    Die Laute waren von einer jungen Frau ausgestoßen worden. Adam hatte Besuch bekommen. Jetzt hörte Gillian sie beide dort draußen reden, zu leise, um mehr als Wortfetzen zu verstehen. Lautlos bewegte er sich zurück zur Tür und blickte durch den Spalt.
    Oda Octavian stand nackt neben ihrem Ebenbild aus Wachs, und die Ähnlichkeit zwischen Original und Kopie hätte nicht größer sein können. Sie versuchte mit einer naiven Unbeholfenheit die Pose der Figur einzunehmen, was ihr nicht ganz gelingen wollte, und das ließ sie noch einmal übermütig auflachen. Ihre dunklen Locken fielen ihr über die Schultern und berührten ihre kleinen Brustwarzen. Ihre Haut war sehr hell, fast weiß.
    Ihr Bruder stand vor ihr, eine Lupe in der Hand, und untersuchte jeden Fingerbreit ihres Körpers, als hätte er ein Exemplar eines seltenen Schmetterlings vor sich. Dabei beugte er sich nah an sie heran, betrachtete wie ein Wissenschaftler die Wölbungen ihrer Hüftknochen, den Bauchnabel, das dunkle Dreieck ihrer Scham.
    Oda drückte ihn spielerisch fort, aber Adam war sofort wieder bei ihr, kam noch näher, und diesmal ließ sie es zu und schnurrte leise.
    Noch einmal sah Gillian über die Schulter, als gälte es, sich zu vergewissern, dass die Gestalt hinter ihm nicht geräuschlos herangekommen war. Er hatte sich nicht getäuscht, das Gesicht war keine Illusion gewesen.
    Er musste unbedingt Aura finden. Es war wichtig, dass sie erfuhr, wen er in

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