Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
darin. Jemand packte Aura an der Schulter, aber sie riss sich los, auch wenn es dort unten nichts mehr zu sehen gab. Bis zur Oberfläche mochten es fünfzehn Meter sein – oder mehr? Gillian würde nicht ertrinken, aber der Aufprall mochte ihm sämtliche Knochen gebrochen haben.
Wieder ergriffen Hände ihre Oberarme und zerrten sie herum. Silhouetten mit weißen Pappmachegesichtern hielten sie fest, während sich Sophia neben ihr über die Brüstung beugte. Ihre Finger waren auf der Mauer zu Fäusten geballt, die tätowierten Augen auf ihren Handrücken noch weiter aufgerissen als sonst.
»Dreckstück!«, knurrte Aura.
Sophia sah reglos in die Tiefe. Die Kapuze verbarg ihr Profil, aber Aura bezweifelte, dass sie noch lächelte.
»Auch gut«, sagte Sophia nach einigen Herzschlägen. »Falls
er überlebt, wird er zu uns kommen.« Sie strich die Kapuze zurück und musterte Aura erstmals mit offener Abneigung. »Nestor war dein Vater. Wie kannst du nur mit seinem Mörder ins Bett gehen?«
»Zumindest habe ich keine sechshundert Menschen getötet.«
Sophias Haut wirkte trotz des Nebels noch ein wenig durchscheinender, als wollte darunter ein zweites Gesicht zum Vorschein kommen. »Sechshundert ...«, wiederholte sie. »Und daran glaubst du? In Wirklichkeit waren es nicht einmal sechzig. All diese Legenden darüber – maßlos übertrieben. Und es ist so lange her. Niemand, der um sie getrauert hat, lebt heute noch. Keiner erinnert sich an sie. Die Schuld, die ich damals auf mich geladen habe, existiert nicht mehr. Steig von deinem hohen Ross herunter, Aura. Alles, was du bist, verdankst du den Hunderten von Mädchen, die dein Vater getötet hat. Und sie waren deine Schwestern ! Blutsverwandte! Aber weil ihr Tod so lange zurückliegt und du sie nicht selbst gekannt hast, trauerst du nicht um sie. Wie sollte ich mich da nach all der Zeit noch schuldig fühlen?« Mit einem Kopfschütteln beugte sie sich vor und gab Aura einen flüchtigen Kuss auf die Lippen, noch ehe die sich abwenden konnte. »Dein Name, deine Unsterblichkeit, dein ganzer Reichtum – alles steht auf dem Fundament dessen, was dein Vater vollbracht hat. Und da nimmst du dir heraus, mich zu verurteilen? Wir sind uns zu ähnlich, Aura. Und irgendwann einmal haben wir beide denselben Mann geliebt, auf unterschiedliche Weise.«
»Ich habe meinen Vater gehasst!«
»Zuletzt, vielleicht. Aber du hättest hören sollen, wie er über dich gesprochen hat, als du noch ein Kind warst. Wie stolz er auf dich war. Ich wäre eifersüchtig auf deine Mutter gewesen, hätte ich nicht so gut verstanden, was er aus welchen Gründen tun musste. Immerhin hat die Heirat mit ihr ihn zu einem reichen Mann gemacht, zu einem Schlossherren sogar. Sie war nur
ein Mittel zum Zweck, aber du ... Er hat etwas in dir erkannt. Und er hat dich aufrichtig geliebt, Aura.«
»Mein Vater hatte vor, mich zu vergewaltigen und umzubringen! Ziemlich interessante Art, seine Zuneigung zu zeigen. Über was habt ihr beiden euch denn bei romantischem Kerzenschein unterhalten? Blutgerinnung und Leichenentsorgung?«
Sophias Mädchenlächeln kehrte zurück. »Über dich. Ich kannte dich schon in- und auswendig, bevor wir uns im Variete begegnet sind. Und wenn du glaubst, dass du dich während der letzten Jahrzehnte sehr verändert hättest, dann täuschst du dich. Du bist noch immer dieselbe störrische, rastlose Aura, von der mir schon dein Vater erzählt hat.«
Aura redete sich ein, dass sie sich auf dieses Gespräch nur eingelassen hatte, um Gillian Zeit zu verschaffen. Aber die Wahrheit war, dass Sophias Worte sie trafen. Hatte sie jemals die Liebe einer Tochter für Nestor empfunden? Ganz sicher nicht. Aber warum war sie dann so wütend geworden, als er ihrem Stiefbruder Christopher den Vorzug gegeben hatte? Hatte sie etwa nicht gehofft, dass sie diejenige sein würde, die Nestor im Laboratorium assistieren dürfte?
»Was hast du jetzt vor?«, fragte sie, um sich von ihrer Angst um Gillian abzulenken. »All der Aufwand, nur um zu verhindern, dass ich die Hesperide finde?«
»Iduna?« Sophia schien aufrichtig überrascht. »Was willst du mit ihr? Du siehst aus wie eine Zwanzigjährige!« Kopfschüttelnd runzelte sie die Stirn. »Aber du hättest mich nur bitten müssen. Du hast es noch immer nicht verstanden, oder? Ich wollte tatsächlich deine Freundin sein. Und ich hatte nie vor, dir etwas zuleide zu tun. Es steckt so viel von Nestor in dir – der gleiche Ehrgeiz, die gleiche
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