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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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hier.«
    »Ist es wahr?«, fragte Aura. »Die Dunkelheit in den Räumen des Palais ... sie ist eine Folge Ihrer Krankheit?«
    »Ich würde alles dafür geben, noch einmal durch seine Flure und Säle zu wandern, um mir selbst ein Bild von dem zu machen, was dort vorgeht.«
    Einen Moment lang meinte Aura, Schritte im Nebel zu hören, doch sie konnte nicht ausmachen, ob sie von vorn oder von hinten kamen. Der verdammte Dunst schien Geräusche zu transportieren, nur um sie im nächsten Augenblick wieder zu verschlucken.
    »Jemand ist hier«, flüsterte Gillian.
    Sie nickte, wollte aber die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen. Dolchow musste Antworten auf einige ihrer Fragen kennen.
Langsam ging sie auf ihn zu, während Gillian zwei Schritte hinter ihr blieb. Von Nahem sah sie, dass sich jenes Auge, das nicht von der Binde bedeckt war, eingetrübt hatte.
    »Ich liebe das Palais wie ein Kind«, sagte der Architekt. »Wahrscheinlich können Sie das nicht verstehen. Ich habe es vor so langer Zeit erbaut, das perfekte Haus für die perfekte —« Er verstummte, schien nachzudenken und formulierte den Satz neu: »Das Palais Octavian ist Baukunst in größter Vollendung.« Aura war nicht sicher, ob sie ihm bei dieser Einschätzung seines Werkes zustimmen wollte, aber das spielte keine Rolle. Dolchow ließ sich ohnehin nicht beirren. »Nicht einmal diese Monstrosität, die die Octavians daneben gebaut haben, kann meinem Palais etwas anhaben.«
    »Aura«, wisperte Gillian. »Da sind Menschen auf der Brücke, vor und hinter uns im Nebel. Eine ganze Menge Menschen!« Er nahm sie bei der Hand und zog sie zur Brüstung hinüber, um ihnen den Rücken freizuhalten. Jenseits der niedrigen Mauer hörte sie den Fluss rauschen, seine Oberfläche war im Nebel unsichtbar.
    »Das Haus und ich sind eins«, sagte der Baumeister. »Zerstören Sie das Haus, und Sie zerstören mich. Und umgekehrt: Töten Sie mich, dann töten Sie auch das Palais.« Er führte die Fingerspitzen einer Hand zu seiner Augenbinde. »Auf einem Auge bin ich bereits blind, und das andere wird bald folgen. Das Haus und ich, wir sind viel mehr als Architekt und Schöpfung. Wir bilden eine vollkommene Symbiose.« Bei diesem letzten Satz wandte er sich von Aura ab und sprach ihn in den Nebel hinter ihrem Rücken hinein.
    Gillians Hand lag auf der Tasche mit seinem Revolver. »Ich schnappe ihn mir«, sagte er, »und dann —«
    »Noch nicht«, gab sie leise zurück.
    »Er hat uns in eine Falle gelockt!«
    »Aber er redet mit uns.« Sie ignorierte Gillians weiteren Widerspruch
und sagte zu Dolchow: »Wissen Sie etwas über eine Gefangene im Haus? Gibt es Kerker, Verliese, irgendetwas, um jemanden über Jahrhunderte darin einzusperren?«
    Dolchow schüttelte den Kopf. »Nicht einmal einen Keller. Einen Menschen könnte man in jedem beliebigen Zimmer gefangen halten – aber um einen Menschen geht es Ihnen gar nicht, richtig?« Sein Grinsen entblößte Zahnlücken. »Nein, im Palais Octavian existieren keine Verliese. Nur Schönes, nur Größe, nur wundervolle Baukunst.«
    Fensterlose Korridore, verwinkelte Treppenschächte und düstere Zimmer, dachte Aura. Stattdessen fragte sie: »Sie wissen von der Gefangenen?«
    Der Architekt senkte die Stimme, bis er kaum noch zu verstehen war. »Suchen Sie nicht nach ihrem Körper. Suchen Sie nach ihrem Geist!«
    Der Affe begann wieder zu schnattern. Nervös wippte er auf der Schulter des Architekten auf und ab, der winzige Orden klimperte leise.
    Gillian packte Aura am Arm und wollte sie schützend hinter seinen Rücken ziehen. Aber sie schüttelte ihn ab und schob sich vor ihn.
    »Sophia?«, rief sie in den Nebel. »Ich weiß, dass du hier bist.«
    Vage Formen waberten hinter dem Dunst, zogen sich zusammen, wurden zu einer Reihe menschlicher Umrisse. Erst nur auf der Westseite der Brücke, dann auch im Osten.
    Dolchow senkte den Kopf. »Verzeihen Sie mir«, bat er leise und kraulte mit einer Hand den Affen. »Sie hat mir versprochen, dass ich dafür das Haus betreten darf. Nach all der Zeit, endlich wieder.«
    Sophia trug ein bodenlanges dunkles Kapuzencape. Die Gestalten in ihrem Rücken und auf der anderen Seite der Brücke blieben eine gesichtslose Menge, zwei unüberwindliche Wälle aus Leibern. Zu viele, selbst für Gillian.

    »Sie hat mich gezwungen«, murmelte Dolchow, und Aura nahm an, er meinte seine Funktion als Köder. Doch dann setzte er noch leiser hinzu: »Sie hat mich unsterblich gemacht, damit ich den Bau vollenden

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