Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
hatte ihm wahrscheinlich ein Jochbein gebrochen. Noch einmal fluchte der Kleine vor sich
hin, spuckte dem Mann am Boden ins geschwollene Gesicht und ging zurück zum Eingang.
»Folgen Sie mir«, sagte er in gewähltem Deutsch. »Und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie in Zukunft auf solche Grobheiten verzichten könnten.«
Ein kurzer Blickwechsel, dann gingen die beiden hinter ihm her. Sophia lief neben ihr wie eine Verbündete, aber das Echo ihres Befehls auf der Brücke hallte noch immer in Auras Erinnerung nach. Es kostete sie Mühe, die Hände ruhig zu halten.
Schließlich standen sie wieder in der großen Eingangshalle. Zwei der drei Schläger waren ihnen mit gesenkten Pistolen gefolgt und blieben in der Korridormündung stehen.
»Warten Sie hier«, sagte das Wieselgesicht, eilte die Freitreppe hinauf und verschwand jenseits des Geländers im ersten Stock.
Aura und Sophia standen unweit der aufgebrochenen Eingangstür. Graugasts Männer hatten eine Kommode von innen dagegen geschoben. Draußen waren noch mehr Handlanger postiert, mindestens zwei hatte Aura bei ihrer Ankunft unter den Arkaden gezählt.
Ihre beiden Bewacher am Rand der Eingangshalle lehnten lässig neben dem Durchgang zum Korridor. Oben auf der Balustrade erschienen zwei weitere. Jemand hatte es für nötig gehalten, mit einer kleinen Armee einzufallen.
Die Männer, denen sie bislang begegnet waren, trugen Schwarz und Grau, zusammengestückelt aus allem, was sie hatten finden können. Nur der Kleine mit der kreischenden Stimme war in feineren Zwirn gekleidet, wohl um zu signalisieren, dass er das besondere Vertrauen seines Gebieters genoss.
Er kehrte zurück und scheuchte die beiden Bewaffneten am Geländer weiter auseinander. Dann trat auch er beiseite und überließ den Platz in der Mitte der Galerie jemandem, der nun in den Schein des Kronleuchters trat.
»Dank dir, Bavor«, sagte der alte Mann mit kehliger Stimme. Er legte beide Hände auf das Geländer und versuchte gar nicht erst den Eindruck zu erwecken, er wäre nicht auf diese Stütze angewiesen. Graue lange Haarsträhnen hingen von seiner Kopfhaut wie schlaffe Wasserpflanzen, seine Wangen waren eingefallen, der Hals so faltig wie zerknülltes Pergament.
Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von anderen verwahrlosten Greisen, wie man sie seit der großen Inflation in wachsender Zahl auf den Straßen sah. Schon in Swanetien hatte er sich mit einem Stock auf den Beinen halten müssen. Verwundert wurde Aura bewusst, dass sie keine klare Erinnerung an sein Gesicht besaß. Und doch hatte sie keinen Zweifel, dass er es war.
»Lysander«, sagte sie. »Ich kann nicht behaupten, dass ich überrascht bin.«
»Aura, meine Liebe.« Er lächelte. »Es hätte mich enttäuscht, wärest du mir nicht auf die Schliche gekommen. Nur hatte ich gehofft, unser Wiedersehen käme unter weniger martialischen Umständen zustande.«
»Du hast den Ort gewählt und die Umstände.«
»Nicht immer tritt alles so ein, wie man es sich wünscht.«
»Ich vermute, deine Tochter würde dir zustimmen – hätten deine Lakaien es nicht vorgezogen, sie zu knebeln und ihr beinahe den Schädel einzuschlagen.«
Lysander blickte sich finster zu Bavor um. »Ist das wahr?«
»Sie übertreibt maßlos, Herr.«
»Sylvette hat Blut im Haar«, widersprach Aura. »Ich habe ihr den Knebel abgenommen und bin dafür beinahe von einem deiner Leute zusammengeschlagen worden.«
Bavor wies anklagend mit seinem kurzen Zeigefinger auf sie. »Sie hat ihn zusammengeschlagen! Nicht dass der Narr etwas Besseres verdient hätte. Aber —«
»Geh und kümmere dich um ihre Wunde!«, befahl ihm
Lysander. »Und finde heraus, wer sie verletzt hat. Ich will seinen Namen.«
Bavor verbeugte sich, eilte die Treppe herab und warf den beiden Frauen im Vorbeilaufen einen wutentbrannten Blick zu. Gleich darauf verschwand er im Korridor zu den Salons.
Sophia stieß ihr mädchenhaftes Lachen aus. »Wie es scheint, sind die meisten hier Teil einer großen, glücklichen Familie.«
Lysanders Gesicht schwebte über dem der Galionsfigur. Ihre ausgestreckten Arme glichen monströsen Auswüchsen seines eigenen Körpers.
»Es hätte alles so einfach sein können«, sagte er zu Aura. »Mir war klar, dass du der Spur folgen würdest, die ich für dich ausgelegt habe. Du bist nach Prag gekommen, ihr beiden seid euch begegnet, habt Vertrauen zueinander gefasst ... Die Welt könnte eine einzige große Blumenwiese sein, findet ihr nicht? Wir alle
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