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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sie?«
    »Sie werden mich nicht wiedersehen, wenn Sie sich ruhig verhalten. Ich habe nicht vor, Ihnen etwas zuleide zu tun.«
    »Was wollen Sie?«
    »Wo finde ich Sophia?«
    »Keine Ahnung. Da waren Schüsse, vorne im Haus. Waren Sie das?«
    »Nein. Aber ich wüsste gern, was da vorgeht.«
    »Ich weiß nichts«, stammelte Severin. »Ich bin die ganze Zeit über hier gewesen.«
    Gillian beugte sich seitlich über die Brüstung und blickte aus der zweiten Etage hinab ins Erdgeschoss der Passage. Erstmals machte ihm die Höhe zu schaffen, so als lägen unter ihm nicht
zehn oder zwölf Meter, sondern ein Abgrund von hundert. Dort unten war niemand, soweit sich das zwischen den Haufen aus Bauschutt erkennen ließ.
    Derweil entfernte sich Galathee am Geländer entlang und murmelte »Ich ... ich ... ich ...«.
    Gillian gab Severin einen Wink. »Gehen Sie zurück in den Laden.«
    »Ich muss das Kind in Sicherheit bringen. Vorher gehe ich nirgendwohin.«
    Gillian spürte neben Ungeduld auch einen Anflug von Rührung. »In Ordnung. Aber lassen Sie sich nicht wieder von ihr übertölpeln. Und versuchen Sie nicht, vor mir davonzulaufen. Sie kämen nicht weit.«
    Severin nickte argwöhnisch und folgte Galathee. Diesmal packte er sie von hinten, fuhr herum und trug sie wie eine Puppe vor sich her.
    »Rein da!« Gillian deutete auf die offene Ladentür.
    Mit dem reglosen Gliederkind in Händen tauchte der Uhrenbauer in das Halblicht jenseits der staubblinden Schaufenster. Gillian folgte ihm – und blieb nach zwei Schritten überrascht stehen.
    Der Raum war viel größer, als er angenommen hatte, augenscheinlich einmal als Kaufhausetage geplant. Lediglich einige Säulen unterbrachen die Weite der Halle. Sie mochte gut zehn Meter tief sein, führte aber auf mindestens vierzig Schritt an der Galerie entlang. Durch ein halbes Dutzend Schaufensterfronten fiel das kränkliche Licht der Passage, gefiltert durch Schleier aus Schmutz.
    Überall in diesem ockerfarbenen Halbdunkel lagen und saßen Severins Schöpfungen, ausgemusterte Fehlschläge mit leblosen Gesichtern, manche aus Wachs oder Keramik, andere mit matter Lederhaut überzogen. Die Geburtlosen. Aura hatte sie erwähnt. Jedes einzelne dieser Wesen hatte Augen, die meisten
täuschend echt aus Glas, einige aufgemalt. Galathée war die einzige Ausnahme.
    Severin stellte das Gliederkind am Boden ab, mit dem Gesicht zur Rückseite des Raumes. Vorerst blieb es so stehen.
    »Was wissen Sie über Sophias ewige Jugend?«, fragte Gillian geradeheraus.
    Auf Severins Brille schimmerten gelbe Reflexe. Drei, vier Herzschläge lang wurde Gillians Schwindel schlimmer, als er die Augen des Uhrmachers nicht mehr hinter dem Glas erkennen konnte. Die Erschöpfung drohte ihn zu übermannen, und ihn durchlief das Zittern einer drohenden Lungenentzündung. Nicht gerade jetzt.
    »Ewige Jugend?«, wiederholte Severin. »Sie haben also von den Gerüchten gehört, die über Sophia im Umlauf sind.«
    »Ich will die Wahrheit hören.« Gillian machte mehrere Schritte auf ihn zu. Keine zwei Armlängen trennten sie noch voneinander. Die ausdruckslosen Gesichter der Geburtlosen starrten in der Düsternis herüber. Aus dem Augenwinkel meinte Gillian eine Bewegung zu bemerken, aber als er hinsah, war da nur ein Gewirr aus Armen und Beinen, wo mehrere der Puppenmenschen übereinanderlagen.
    Das Aufblitzen von Sarkasmus in Severins Blick mochte ebenso eine Spiegelung in den Brillengläsern sein. »Ist deshalb geschossen worden? Sind da noch andere, die an Sophias Unvergänglichkeit interessiert sind?«
    Galathee drehte sich mit knirschenden Gelenken um und setzte sich abermals in Bewegung. Diesmal ließ Severin sie gewähren, seine Augen waren ganz auf Gillian und das Messer konzentriert. Gleich neben ihm lagen zwei Geburtlose, deren Arme und Beine sich von Schultern und Hüften gelöst hatten; wahrscheinlich waren die Halteriemen im Inneren der Gelenke mürbe geworden.
    »Ich ...«, begann Gillian und bemerkte, dass Galathee im
selben Moment das Gleiche sagte, während sie an ihm vorüberwankte in Richtung Ladentür. Er hatte jetzt Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Es war ein Fehler, hier Zeit zu verschwenden.
    »Sie haben eine Pistole«, stellte Severin fest, »an ihrem Rücken im Hosenbund. Ich konnte vorhin die Ausbuchtung sehen.«
    »Was hat das –«
    Von hinten berührte ihn jemand. Schien nach der Waffe zu tasten.
    Als er herumwirbelte, stand Galathee da, eine wächserne Hand nach ihm ausgestreckt.

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