Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
diese Entfernung kaum zu erkennen.
Mit seinen altersschwachen Augen hatte Lysander noch nichts davon bemerkt. Und Bavor war gerade im ersten Stock angekommen, eine Etage tiefer und mindestens siebzig Meter Luftlinie von der kauernden Silhouette entfernt. Seit er die Treppe verlassen hatte, konnte Aura ihn von unten nicht mehr sehen. Wahrscheinlich schlich er eng an den Schaufenstern entlang und warf nervöse Blicke in verlassene Läden.
»Und was Ihr großzügiges Angebot angeht«, meldete sich Severin erneut zu Wort, »so frage ich mich, warum Sie mir Ihre
Mörder auf den Hals hetzen, wenn Sie doch an einem harmlosen Austausch interessiert sind.«
Er meinte wohl Bavor. Falls der Uhrmacher wirklich dort oben auf der Brücke kauerte, musste er Lysanders rechte Hand längst entdeckt haben.
Dann aber rief er: »Der Hermaphrodit ist hier bei mir! Sie können ihn haben, wenn Sie wollen. Wie wäre es, wenn ich ihn einfach zu Ihnen hinunterwerfe?«
»Nein!«, schrie Aura. »Ich warne Sie!«
Lysander schenkte ihr einen finsteren Seitenblick. »Gillian?«, flüsterte er. »Ich hätte mir denken müssen, dass er Sophia entkommt.«
Aura suchte die obere Galerie ab, kehrte aber wieder zurück zu dem Umriss auf der Brücke. Jetzt glaubte sie zu erkennen, dass die Gestalt eher lag als saß; nur der Oberkörper war ein wenig an den Eisenstreben aufgerichtet worden. War das Gillian?
Mit belegter Stimme rief sie: »Ist er tot?«
»Nein«, antwortete Severin. Er musste sich gleichfalls im zweiten Stock aufhalten, aber auf einer der seitlichen Galerien, nah genug bei Gillian, um seine Drohung in die Tat umzusetzen. »Er ist bewusstlos. Machen Sie sich keine Hoffnung, dass er sich aus eigener Kraft befreien könnte. Ich habe ihn mit Kabeln verschnürt.«
Lysanders Blick war ihrem gefolgt und hatte den Körper dort oben nun ebenfalls entdeckt. Ein Lächeln legte sich auf seine Züge, als er sich an den Mann hinter Aura wandte. »Kannst du ihn von hier unten aus erledigen?«
Die Antwort kam auf Tschechisch.
Aura achtete nicht länger auf die Mündung in ihrem Rücken, wirbelte herum und warf sich auf den Kerl. Ein Befehl Lysanders ertönte, der ihn wohl davon abhielt, sie kurzerhand zu erschießen. Im nächsten Moment lag sie auch schon auf ihm am Boden, fing sich einen Hieb mit der Waffe gegen die Schulter
ein und holte ihrerseits aus, um mit aller Kraft auf seinen Kehlkopf einzuschlagen.
Ihre Hand wurde gepackt, gleichzeitig legte sich von hinten ein Arm um ihren Hals. Der zweite Mann riss sie fort von seinem Gefährten am Boden, während Lysander ein paar Schritte zum Rand der Passage zurückwich, fast bis zur Tür von Severins Werkstatt.
Sie wurde überwältigt und von ihrem neuen Gegner auf den Boden gepresst. Der Schütze, den sie angegriffen hatte, sprang auf und stand sogleich mit der Waffe im Anschlag bereit.
Außer sich vor Wut wandte sie sich an Lysander. »Wage es ja nicht, auf Gillian schießen zu lassen!«
Der Mann legte sorgfältig auf die obere Brücke an. Grinste und sagte abermals etwas auf Tschechisch.
Lysander achtete nicht auf Aura, die sich jetzt wie eine Besessene gebärdete und versuchte, sich aus dem Griff des anderen Lakaien zu entwinden. Stattdessen hob er die Stimme und rief: »Octavian! Ihr Gefangener dort oben ist mir vollkommen gleichgültig. Er gehört schon lange nicht mehr zu mir. Tatsächlich habe ich die Befürchtung, dass er mich eine ganze Reihe meiner Männer gekostet hat, die alle schon viel zu lange auf sich warten lassen. Sie würden mir also einen großen Gefallen tun, wenn Sie ihn für mich entsorgten. Schmeißen Sie ihn von mir aus herunter, wenn Ihnen das Freude bereitet!«
Aura tobte, aber der Mann über ihr drückte ihr die Hand auf den Mund. Vergeblich versuchte sie, ihn mit den Zähnen zu erwischen. »Ganz ruhig«, sagte er mit schwerem Akzent.
Der Schütze zielte über seinen ausgestreckten Arm hinweg.
»Sie bluffen!«, rief Severin von oben.
»Seien Sie versichert, mein Freund, selbst wenn es sich um einen meiner Leute handeln würde, läge es mir fern, um seinetwillen aufzugeben. Ob er lebt oder stirbt – mir ist’s einerlei.«
Aura schleuderte Lysander hasserfüllte Blicke zu. Glaubte er
wirklich, Severin wäre dumm genug, seine Deckung zu verlassen und Gillian in die Tiefe zu stoßen, nur um dann seinerseits von Lysanders Schützen erwischt zu werden?
Ein Scharren hallte von den hohen Fassaden wider, und im ersten Augenblick dachte sie an Bavor, der noch
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