Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
Vom Netzwerk:
Mann konnte sich nur langsam bewegen, und der Weg von der Bibliothek zum Foyer erschien Aura endlos. Jede Minute, die sie verschwendeten, würde ihr später fehlen, um das Gilgameschkraut rechtzeitig nach Wien zu bringen.
    Vorausgesetzt sie lag richtig mit ihrer Vermutung und hatte sich nicht in einen lächerlichen Irrtum hineingesteigert.
    Unter der Galionsfigur blieb sie stehen und deutete hinauf zu dem augenlosen Holzgesicht. »Das ist sie. Zuzana Octavian hat die Hesperide in die Figur gebannt.«
    Lysander betrachtete die götzengleiche Gestalt an der Wand eine Weile lang wortlos und sah dann Aura an. »Ist das dein Ernst?«
    Die Leibwächter verzogen keine Miene. Erstmals wurde Aura klar, dass sie kein Deutsch verstanden. Deshalb also konnte Lysander so offen vor ihnen sprechen.
    »Ich habe erst den Fehler gemacht, anzunehmen, dass Zuzana sie wie eine gewöhnliche Gefangene nach Prag gebracht hat«, sagte sie. »Aber wer weiß, was damals wirklich geschehen ist. Wahrscheinlich lag Iduna im Sterben – deshalb hat sie Zuzana gestattet, ihr einen neuen Körper zu geben. Und Zuzana ist es gelungen, die Hesperide in die Galionsfigur ihres Schiffes zu bannen. Später hat sie die Figur vom Rumpf abtrennen und hierherbringen lassen. Iduna besaß nicht die Macht, sich aus eigener Kraft daraus zu befreien.«

    Lysander schüttelte nachdenklich den Kopf, richtete aber den Blick wieder auf das Ungetüm mit den vorgereckten Armen. »Und du bist der Meinung, sie steckt noch immer in diesem Ding?«
    »Lysander«, sagte sie mit erhobener Braue, »du bist das Paradebeispiel eines Schurken, der sich mit vielerlei hässlichen Dingen umgeben müsste. Aber würdest selbst du dir so etwas an die Wand hängen? In deine Eingangshalle?«
    Das brachte ihn zum Lachen. Schließlich gestikulierte er mit seinem Stock in die Richtung der Galionsfigur. Auf Tschechisch gab er Befehle, woraufhin einer der Leibwächter im angrenzenden Korridor verschwand und wenig später mit Bavor und zwei weiteren Männern zurückkehrte. Der kleine Mann mit dem Nagergesicht warf Aura einen verächtlichen Blick zu und redete auf seinen Meister ein; zweifellos unterstellte er ihr Arglist und Täuschung. Aber Lysander winkte ab und kommandierte die Männer in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.
    Es vergingen weitere Minuten, ehe seine Handlanger eine Leiter und einen Strick beschafft hatten und begannen, die Figur aus ihrer Verankerung zu lösen. Bavor und die beiden Männer aus dem Salon hielten sie fluchend und palavernd mithilfe des Seils von der Balustrade im ersten Stock aus, während einer der Leibwächter auf der Leiter stand und die Gestalt von zwei großen Eisenhaken hob, mit denen sie an der Wand befestigt war. Daraufhin wurde sie langsam zu Boden gelassen, eine Aufgabe, die alle fünf Männer gehörig Kraft und Nerven kostete.
    Derweil stand Aura ungeduldig neben Lysander und tat ihr Bestes, nicht an Gillian und Gian zu denken oder Zeit damit zu verschwenden, sich aussichtslose Pläne zur Befreiung Sylvettes zurechtzulegen. Lysander würde bald einen Beweis von ihr verlangen, aber alles, was sie hatte, war eine verzweifelte Hoffnung.
    Weitere Anweisungen wurden erteilt und schließlich lehnte die Figur schräg an der Rückwand des Foyers; ihre Arme mit
den verstümmelten Händen tasteten nun auf Schulterhöhe der Menschen hinaus in die Halle. Hier unten am Boden wirkte sie noch ungeheuerlicher. Ihr Torso endete unterhalb des Bauchnabels, aber allein der Oberkörper überragte die hünenhaften Leibwächter um eine Handspanne. Die ausgestreckten Arme mussten noch einmal genauso lang sein und erinnerten Aura mit ihren dunklen Oberflächen an gewaltige Insektenbeine.
    Aus der Nähe zeigte sich, wie wurmstichig das Holz war. An manchen Stellen waren wohl schon auf See Stücke aus dem Schnitzwerk gefault und hatten schrundige Wunden hinterlassen. Auch gab es Kerben, die von Messern oder Säbeln stammen mochten, vor allem in den entblößten Brüsten. Den stärksten Eindruck aber machte das knochige Gesicht, das selbst ohne Augen noch streng und unnahbar erschien.
    Die breite Furche, die horizontal durch den Nasenrücken und unterhalb der Stirn verlief, war offenbar in Eile in das Holz geraspelt worden. Wer immer die Figur so barbarisch geblendet hatte, musste eine grobe Feile oder Fräse benutzt haben. Später war versucht worden, mit Farbe zwei neue Augen in die Schneise zu malen. Aber auch sie waren wieder verblasst bis auf jene Reste, die sich

Weitere Kostenlose Bücher