Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
in der aufgerauten Oberfläche festgesetzt hatten und die Umrisse nur noch erahnen ließen.
Lysander zog die richtigen Schlüsse. »Du glaubst, es ist wegen der Augen, oder?«
Aura nickte. »Wenn Augen die Fenster zum Geist eines Menschen sind, dann hat Zuzana sie vielleicht entfernen müssen, um Iduna in der Figur einzusperren. Ich bin keine Expertin in diesen Dingen, aber eine Menge heidnischer Beschwörungen und Rituale kreisen um Augen und das Sehen in andere Welten und Existenzebenen.« Während sie das sagte und in Richtung der Galionsfigur deutete, fiel ihr Blick auf ihre Fingernägel.
»Und wer«, fragte Lysander, »hat ihr die Augen dann wieder aufgemalt?«
»Ach, verdammt!«, flüsterte sie.
Er beobachtete sie argwöhnisch. »Was ist los?«
»Wie viele Männer sind noch bei Sophia?«, wandte sich Aura an Bavor.
Lysanders Lakai blinzelte unschlüssig von ihr zu seinem Meister, dann zuckte er die Achseln. »Nur einer. Aber wir haben sie von Kopf bis Fuß verschnürt, sie könnte nicht mal mit den Ohren wackeln.«
Vorwurfsvoll sah Aura zu Lysander hinüber. »Woher nimmst du nur diese Vollidioten?«
Bavor wollte protestieren, aber der alte Mann schnitt ihm mit einem zornigen Knurren das Wort ab. »Sie ist eine Entfesslungskünstlerin , Herrgott noch mal!«
Der Wieselmann wurde kreidebleich und wollte loslaufen, aber da erklang vom Geländer im ersten Stock ein mädchenhaftes Kichern. Alle Gesichter wandten sich nach oben, und dort stand sie, nackt wie auf der Bühne ihres Varietes, den Körper bedeckt mit Dutzenden tätowierter Augen.
Am ausgestreckten linken Arm hielt sie etwas über die Brüstung und ließ es oberhalb der Galionsfigur fallen. Mit einem dumpfen Laut prallte es auf das hölzerne Gesicht, fiel herunter und hinterließ auf den Zügen eine Maske aus frischem Blut. Der abgetrennte Schädel von Sophias Bewacher rollte zwischen den ausgestreckten Händen der Figur hervor und blieb vor Aura und Lysander liegen.
Im Schein des Kronleuchters glänzte das Blut des Mannes auf Sophias Körper ebenso wie auf dem Gesicht der Galionsfigur. Die rechte Hand verbarg sie hinter ihrem Rücken, als hielte sie dort eine weitere Überraschung für ihre Zuschauer unten in der Halle bereit.
Die Leibwächter rückten vor Lysander. Bavor aber setzte die beiden anderen Männer in Bewegung. Nur zu bereitwillig stürmten sie die Freitreppe hinauf, um die nackte junge Frau dort
oben zu packen. Sie hatten kaum die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht, als Sophia ihr Rechte zeigte. Darin lag eine Pistole, die sie ihrem Wächter abgenommen haben musste.
»Sie ist nicht nur –«, rief Aura, aber da bellten schon zwei Schüsse. Beide trafen zielgenau die Köpfe der Männer auf der Treppe. Einer wurde zurückgeworfen und schlitterte auf dem Rücken die Stufen hinunter, den anderen schleuderte der Einschlag über das Geländer.
» – nicht nur Entfesslungskünstlerin«, beendete Aura ihren Satz. »Zu ihrer Show gehört auch Kunstschießen.«
»Bleibt stehen«, sagte Sophia.
Die Leibwächter schützten Lysander mit ihren Körpern, verzichteten aber vorerst darauf, das Feuer zu erwidern. Aura fragte sich, wie groß wohl ihre Bereitschaft sein mochte, das eigene Leben für das ihres Anführers zu opfern.
»Sophia«, rief sie zur Galerie hinauf. »Was ist mit den anderen?«
»Keine Zeit, sie alle zu befreien. Sonst hätte ich verpasst, wie du der guten Zuzana auf die Schliche kommst. Respekt, du hast es in weiten Teilen auf den Punkt gebracht. Sie hat die Abendliche tatsächlich in der Galionsfigur nach Prag gebracht. Und zu Zuzanas Lebzeiten hat Iduna sie auch nicht verlassen.«
»Bis jemand anders der Figur neue Augen gegeben, den Bann gebrochen und die Hesperide befreit hat«, folgerte Aura. »Richtig?«
Lysander warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu.
Kopfschüttelnd sagte sie zu ihm: »Ich hab’s nicht gewusst. Aber gerade eben fiel mir ein, wer hier die hübschesten Augen malt.«
Sophia warf ihr ein Lächeln zu. »Richtig und falsch«, sagte sie. »Ich habe sie aus der Figur geholt, das ist wahr, und dafür musste ich Zuzanas Bann aufheben. Aber befreit habe ich sie nicht. Ganz im Gegenteil. Iduna hat mich um einen neuen Körper
angefleht, einen Körper wie ein Mensch, und den habe ich ihr gegeben.«
»Sie ist ... in dir?«, stieß Lysander aus.
Sophias Lachen klang frostig. »Für wie dumm hältst du mich, alter Mann? Mache ich auf dich den Eindruck von jemandem, der freiwillig mehr als ein
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