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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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dunkel waren sie vor Zorn.
    »Ihr habt noch immer nicht genug, was?« Sie verschluckte sich fast an ihren Worten. »Reicht euch das Theater von heute Nachmittag noch nicht? Müsst ihr euch sogar mitten in der Nacht aufführen wie Kinder?«
    »Tess«, seufzte Sylvette und glitt vom Rand der Bahre. »Kannst du mir verraten, was du hier zu suchen hast, in deinem Zustand? Dieser Gang da unten ist nicht ungefährlich für —«
    »Ach, hör doch auf!«, fuhr Tess ihre Mutter an. »Zustand! Ich kann das Wort nicht mehr hören. Jeder zerreißt sich das Maul über meinen Zustand! Aber Zustände bekomme ich über was ganz anderes. Wenn meine Mutter und ihre Schwester sich benehmen wie alberne kleine Mädchen, zum Beispiel, statt sich zusammenzureißen und —«
    »Lass gut sein, Tess«, fiel Aura ihr ins Wort. »Wir haben nicht gestritten. Im Gegenteil, wir haben beschlossen, dass wir diese Sache schleunigst vergessen wollen.«
    Sylvette nickte. »Wir sollten einfach alle ins Bett gehen und versuchen, noch ein paar Stunden zu schlafen.«
    Tess blickte von einer zur anderen, schüttelte den Kopf und sah mit einem Mal tieftraurig aus. »Ich bin es leid«, sagte sie
leise. »Wirklich, ich brauch das nicht. Wenn ihr euch die Köpfe einschlagen wollt, dann tut das. Aber ohne mich. Morgen früh fahre ich zurück nach Berlin.« Damit wandte sie sich auf der schmalen Stufe um, atmete einmal tief durch und machte sich auf den Rückweg.
    »Tess, warte«, rief Sylvette und eilte zur Falltür.
    »Lasst mich in Ruhe«, drang es aus der Tiefe herauf, »alle beide! Schreit euch noch ein wenig an, wenn ihr meint, das müsste so sein. Aber untersteht euch, mir nachzulaufen und mich stützen zu wollen!«
    Aura rieb sich lächelnd den Nacken. »Die Muttersprüche beherrscht sie jedenfalls schon ganz gut.«
    Sylvette wirbelte herum. »Alles ist immer nur lächerlich, stimmt’s? Aber ich will meine Tochter nicht verlieren.«
    »Deswegen? Aber das war gar nichts! In ein paar Stunden hat sie sich wieder beruhigt.«
    Sylvette starrte sie an. Im Halbdunkel war ihre Miene kaum auszumachen. »Für dich ist alles eine Lappalie, solange es dich nicht selbst betrifft.«
    »Das ist so verdammt unfair.«
    »Nein, Aura, es ist die Wahrheit.« In Sylvettes Stimme lag jetzt eine Endgültigkeit, die weit mehr schmerzte als die Worte selbst. »Vielleicht hättest du nur einmal im Leben einem anderen nachlaufen sollen, nur einmal versuchen sollen, jemanden aufzuhalten. Dann wärst du heute vielleicht nicht so schrecklich allein.«
    Und damit ließ sie Aura stehen, eilte die steilen Stufen hinunter und folgte ihrer Tochter in die Finsternis.

KAPITEL 10
    »Erinnerst du dich an deinen Namen?«
    Gillian gab keine Antwort.
    »Ob du deinen Namen kennst, will ich wissen.« Die Stimme sprach Französisch. Sie klang brüchig und atemlos, erregt und abgenutzt; so hörte sich jemand an, der sein Leben lang Befehle erteilt hatte.
    Selbst wenn Gillian gewollt hätte – er konnte nicht sprechen. Vielleicht später, falls der Andere ihm Zeit dazu ließ, bevor er ihm wieder das Gas verabreichte.
    Finger berührten sein Kinn, wollten ihm den Mund öffnen. Dann wurde der Rand eines Gefäßes an seine Lippen gesetzt. Kein Gas, sondern Wasser. Hatten sie ihm überhaupt schon einmal zu trinken gegeben? Bestimmt, aber erinnern konnte er sich nicht daran. Erst jetzt fiel ihm auf, wie durstig er war.
    Er trank erst gierig, dann in kleineren Schlucken. Zugleich spürte er, wie vergossenes Wasser über seinen Oberkörper rann, am Hals hinab auf seine Brust. Seit langer Zeit hatte er seinen Körper nicht mehr so bewusst wahrgenommen.
    Schließlich wurde das Gefäß zurückgezogen. Er versuchte zu sprechen. Die Übelkeit lag noch immer wie eine enge Kette um seinen Hals, aber er glaubte, wieder Laute bilden zu können. Vielleicht ganze Silben.
    »Dein Name«, sagte der alte Mann.
    »G —«, begann Gillian.
    »Weiter, weiter.«
    »Geh ... zur Hölle.«
    »Was bist du?«

    »Dein Gefangener.«
    »Ja, ja, das auch.« Der Alte war außer Atem. »Aber was bist du?«
    »Du siehst mich doch vor dir.«
    »Als du hergebracht wurdest, da dachte ich, du bist ein Mann. Aber das ist nicht wahr.«
    Jeden Moment konnte mit dem Gas auch Gillians Orientierungslosigkeit zurückkehren und er würde vergessen, was gerade geschah. Dennoch glaubte er, dass der Mann ihn niemals zuvor so offen angesprochen hatte, sonst hätte er ihm nicht diese Fragen gestellt. Demnach war er neugierig auf seinen

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