Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
musst wissen, wie es ihm geht. Wenn du die Briefe lesen willst, dann tu’s. Außerdem hast du dann einen Grund, mich anzurufen und mir zu erzählen, was er treibt.«
Aura winkte ihr zu. »Gute Reise!«
»Bis bald! Hab dich lieb.« Das hellblonde Haar ihrer Nichte wurde vom Meerwind aufgewirbelt, als das Boot die Steinlöwen an der Einfahrt passierte. »Und sei nett zu Mutter!«
Drei Tage lang blieb Aura standhaft.
Sie verbrachte die meiste Zeit in Nestors Bibliothek im Dachgeschoss, packte ein paar Bände ein, um sie mit nach London zu nehmen, und studierte andere am Schreibtisch zwischen den Buchstabenfenstern. Dabei wanderte ihr Blick immer wieder zu dem Symbol auf der Tischplatte. Sie hatte es mit dem in der Standuhr verglichen: Die beiden waren identisch.
Die Vogelstimmen schwiegen, solange die Uhr jeden zweiten Tag in entgegengesetzter Richtung aufgezogen wurde. Und Schweigen herrschte auch im Speisezimmer, wenn Sylvette und sie sich an der Tafel begegneten. Beide hielten keine geregelten Essenszeiten ein. Manchmal holte sich Aura nur etwas aus der Küche und aß es auf dem Sofa im Dachgarten. Sie mochte diesen Ort noch immer, trotz all seines Ballasts.
Sylvette kümmerte sich derweil um den Papierkram, der mit Charlottes Tod und der Regelung des Erbes einherging. Hin und wieder beriet sie sich mit Aura, aber ihre Gespräche waren kurz und emotionslos. Es gab keine Feindseligkeit zwischen ihnen, nur eine schmerzhafte Sprachlosigkeit. Und wie in solchen Fällen üblich schloss dies das Unvermögen ein, über die Ursachen zu reden.
Am dritten Abend kam der Pelikan zu Aura in die Bibliothek, setzte sich neben sie auf den Fußboden und sah sie aus seinen dunklen Augen an. Durch die Fenster fiel der rote Schein der Abendsonne und warf die Schatten der anagrammatischen Quadrate über die Holzbohlen.
Erst nach einer Weile bemerkte Aura, dass sie gedankenverloren mit dem Vogel sprach, nicht nur einen Satz hier und da,
sondern einen ganzen Dialog, in dem sie seinen Part mit übernahm. Da wurde ihr klar, dass es so nicht weitergehen konnte.
Kurz darauf betrat sie Tess’ altes Kinderzimmer im Ostflügel. Anders als in ihrem eigenen gab es hier zahlreiche Überbleibsel aus dem Leben eines jungen Mädchens, angefangen bei den unvermeidlichen Stofftieren. Zwar fristeten sie ihr Dasein in einer Nische neben dem Schrank, waren aber immerhin so liebevoll drapiert, dass sie hinaus in den Raum schauten. Aura wünschte sich, dass man auch ihr Gelegenheit gegeben hätte, mit ihrer Kindheit abzuschließen.
In der Schublade waren Gians Briefe säuberlich übereinander gelegt worden. Aura hielt kurz inne, dann nahm sie den Stapel heraus, ging hinüber zum Bett und setzte sich auf die Kante. Die Briefe legte sie neben sich auf der Decke aus, insgesamt waren es dreizehn. Keiner war geöffnet. Alle stammten aus Paris, aber die Adresse auf den ersten sieben unterschied sich von jenen auf den späteren. Demnach war Gian umgezogen. Nicht einmal das hatte sie gewusst.
Erst nahm sie den Brief, der zuoberst in der Schublade gelegen hatte. Sie war drauf und dran, ihn aufzureißen, als sie es sich anders überlegte. Lieber wollte sie chronologisch vorgehen und so an seinem Leben teilhaben; sich in die Vergangenheit zu arbeiten, hätte sich angefühlt, als sortiere sie den Nachlass eines Toten.
Zwei Stunden später legte sie den vorletzten Brief beiseite.
In seinen ersten Schreiben hatte Gian den meisten Raum darauf verwendet, sich bei Tess für die Entscheidung zu rechtfertigen, ihr künftig aus dem Weg zu gehen. Er empfand tiefes Entsetzen über das, was er als Sechzehnjähriger angerichtet hatte, seine Schuldgefühle bestimmten noch immer sein Leben. Aura tat es weh, zu lesen, wie sehr er litt und mit welcher Kraft er darum kämpfte, die Ereignisse zu verarbeiten. Zehn Jahre waren seit damals vergangen, aber Gian wurde
auch heute jede Nacht von Schreien aus dem Schlaf gerissen, von den Bildern der Sterbenden an der Ausgrabungsstätte von Uruk.
Aus den Briefen setzte sich der Charakter eines jungen Mannes zusammen, der auf vielerlei Weise versucht hatte, seiner Albträume Herr zu werden. Betroffen las Aura, wie er sein Heil erst im Absinth, dann im Kokain gesucht hatte; beides vergeblich. Da war die Rede von monatelangen Phasen der Selbstzerstörung in den Opiumhäusern am Montmartre und von Schlimmerem, das er nur andeutete.
Nach einer Weile hatte er erkannt, dass es vergebens war, seine Erinnerungen gegen andere, ebenso
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