Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
substanzlose Bilder eintauschen zu wollen. Nicht seine Gesundheit, nicht sein körperlicher und geistiger Verfall waren es gewesen, die seinem Leben eine andere Richtung gegeben hatten, sondern ausgerechnet ein Geistlicher.
Ein gewisser Abbe Gustave hatte sich seiner angenommen, hatte tage- und nächtelang auf ihn eingeredet und ihm klargemacht, dass sein bisheriger Weg in die Irre führte. Gian ging in seinen Briefen nicht ins Detail, aber etwas, das dieser Abbe gesagt hatte, schien ihn tief bewegt zu haben. Gustave hatte ihn und ein paar andere, die er auf den Straßen des Vergnügungsviertels aufgelesen hatte, in die Pariser Museen und Galerien geführt. Er hatte ihnen Werke gezeigt, durch die es den Künstlern gelungen war, Erlebtes zu verarbeiten und aus Schrecken Schönheit zu erschaffen.
Daraufhin hatte auch Gian mit dem Malen begonnen, vor über zwei Jahren; seither hatte er den Pinsel kaum aus der Hand gelegt. In seinen letzten Briefen war nicht mehr die Rede von der Vergangenheit, kein Wort mehr über Nestor oder das Blutbad von Uruk. An die Stelle der Entschuldigungen und Selbstanklagen war neue Entschlossenheit getreten. Er schwärmte von den Theorien eines gewissen Andre Breton und von einem
Zirkel junger Künstler, die sich selbst als Surrealisten bezeichneten. Aura hatte von ihnen gehört, weil sich einige von ihnen im alchimistischen Untergrund von Paris bewegten und eine Symbiose von Kunst und Hermetik anstrebten.
Schließlich nahm sie den letzten Brief in die Hand und betrachtete ihn. Gians Handschrift hatte sich während der vergangenen Jahre verändert, war schwungvoller und schöner geworden, doch diesen Umschlag schien er in aller Eile beschriftet zu haben. Der Poststempel war erst zwei Wochen alt.
Mit klopfendem Herzen zog sie das Schreiben hervor.
Tess, meine Liebe,
mein letzter Brief liegt erst zwei Monate zurück. Alles wie gehabt, ich produziere Bilder Tag und Nacht, bin müde und glücklich, im Großen und Ganzen jedenfalls. Aber diesmal geht es nicht um mich, was dich wahrscheinlich überrascht, falls du meine anderen Briefe gelesen hast. Falls nicht, hoffe ich einfach, dass du diesen hier zumindest überfliegst, weil er kürzer wird als der Rest.
Es gibt wichtige Neuigkeiten.
Mein Vater ist aufgetaucht. Nicht bei mir, natürlich, damit hätte ich nach zehn Jahren auch nicht gerechnet. Aber er scheint hier in Paris zu sein. Und es geht ihm nicht gut.
Ich war mit jemandem zusammen — frag nicht, es war nichts Ernstes — , und sie arbeitet in einem Sanatorium, ach was, in einem Irrenhaus. Warum ein schöneres Wort dafür suchen? Es ist eine Anstalt, eine Klapsmühle eben. Und einer ihrer Patienten ist ein Hermaphrodit. Das ist nicht das Wort, das sie benutzt hat, aber er ist halb Mann, halb Frau. Keiner weiß genau, woher er kommt, weil er nur im Schlaf und unter Drogen redet. Dann wohl meist Deutsch oder Italienisch. Das Alter stimmt, Mitte bis Ende Dreißig. Eingeliefert wurde er unter dem Namen Lépicier, obwohl er kein Franzose ist. L’Épicier ist das französische Wort für Krämer. Auf Latein: Institoris.
Steigere ich mich da in etwas hinein? Ich weiß es nicht. Vaters Name ist ja nicht mal Institoris; er hat in seinem früheren Leben (und vielleicht heute wieder) viele Nachnamen benutzt, aber diesen nie. Trotzdem kann das doch kein Zufall sein.
Ich habe das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen. Er hat nie etwas für mich getan, nicht in den letzten zehn Jahren. Kein Besuch, kein Brief, kein Lebenszeichen. Aber der Abbe hat gesagt, man solle besser sein als jene, denen man etwas nachträgt. Also will ich besser sein. Ich will ihm helfen. Ich schulde ihm nichts, doch er ist und bleibt mein Vater.
Natürlich könnte es eine Verwechslung sein. Aber ein Hermaphrodit? Und das Alter? Dieser Name? Ich habe aufgehört, an Zufälle zu glauben. In der Kunst sieht vieles aus wie Zufall, ist jedoch Fügung. Im Leben ist es nicht anders.
Heute ist das meine Überzeugung, morgen vielleicht schon nicht mehr. So bin ich nun mal; du hast das wankelmütig genannt. Ich werde versuchen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, um herauszufinden, warum man ihn dort eingesperrt hat. Wer dafür verantwortlich ist. Ob er etwas verbrochen hat. Ein paar Erkundigungen habe ich schon eingeholt. Fest steht, dass es kein gewöhnliches Irrenhaus ist, nicht wie alle anderen.
Du hast Vater immer gemocht, hast du mal gesagt. Darum wollte ich dir davon erzählen. Aber habe ich ihn gemocht? Früher einmal, das
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