Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
jagte seine Beute also schon eine Weile und musste entsprechend gereizt sein.
Als wollte die Kreatur Auras Vermutung bestätigen, stieß sie hoch oben in den Bäumen ein scheußliches Kreischen aus. Der Pavian hatte sein Opfer gefangen, stand breitbeinig auf einem Ast, wandte sich triumphierend der Anstalt zu und hielt das kleinere Tier mit beiden Händen über dem Kopf.
Das Gestammel in den Zellen brach ab. Zwei, drei Sekunden lang herrschte völlige Stille.
Dann schwoll hinter den Fenstern ein vielstimmiges Heulen und Schreien an. Die Patienten beantworteten das Kreischen des Pavians wie Eingeborene den Kriegsruf ihres Häuptlings. Nicht der Affe imitierte die Menschen, sondern die Männer und Frauen ahmten das Tier draußen im Park nach.
Aura und Gian blieben stehen, nur wenige Schritte von der Tür entfernt, gepackt von einem Grauen, das sie sekundenlang lähmte.
Oben in der Eiche, zehn Meter über dem Erdboden, genoss der Pavian den Beifall der Wahnsinnigen, sprang auf und ab und ließ die Baumkrone erbeben. Als das Brüllen der Insassen einen Höhepunkt erreichte, verstummte er. Keine zwei Atemzüge später schwiegen auch die Kranken in ihren Zellen.
Mit einem furchtbaren Laut riss er das Eichhörnchen über seinem Schädel entzwei, besudelte sich mit Blut und verfiel von Neuem in schrilles Gekicher. Sein Blick war fest auf die Fensterschlitze des Anbaus gerichtet, erfüllt vom Wissen um sein Publikum hinter den Gitterstäben, der Dirigent einer grausigen Abendunterhaltung im Sanatorium Saint Ange.
Aura und Gian legten die letzten Meter zurück und stürzten durch den offenen Eingang.
Dahinter herrschte Finsternis. Es stank bestialisch nach den Ausscheidungen des Affen und den verwesenden Überresten seiner Jagdbeute.
»Was ist das hier?«, flüsterte Gian atemlos. »So was wie seine Höhle?«
Aura schüttelte den Kopf. »Er trägt eine verdammte Uniform. Jemand, der sein Tier so ausstaffiert, lässt es nicht in einem solchen Loch hausen. Das hier ist vermutlich so was wie ... seine Toilette.«
»Wie sollen wir hier rauskommen, wenn er —«
»Wenn das Mistvieh hier ein und aus geht, dann ist diese Kloake wahrscheinlich von innen und von außen zu erreichen.«
Jetzt, da ihre Augen sich an das Dunkel gewöhnten, meinte sie ein Stück vor sich einen schmalen Lichtstreifen über dem Boden zu sehen.
Die Insassen verhielten sich wieder ruhig, die barbarische Huldigung war beendet. Aura sah noch einmal zurück zum Eingang, kniff die Augen zusammen und versuchte, durch die Öffnung die Bäume zu erkennen, den Triumphator dort oben im Geäst. Er war nicht mehr an seinem Platz.
Stolpernd erreichten sie die Rückwand des Raumes. Auras Hand ertastete eine Klinke mit öliger Oberfläche. Beim ersten Versuch rutschten ihre Finger ab, dann bekam sie den Griff zu fassen. Die Tür ließ sich aufdrücken, dahinter lag bleiche Helligkeit. Aura öffnete sie gerade weit genug, dass sie nacheinander hindurchschlüpfen konnten, aus Sorge, das Licht könne vom Garten aus bemerkt werden.
Gerade wollte sie die Tür wieder schließen, als sie ein Schnaufen vernahm. Der Spalt war kaum noch fingerbreit. Mit einem Auge warf sie einen letzten Blick hinaus.
Eine Silhouette war im Ausgang zum Park erschienen. Erst stand das Tier noch auf allen vieren, dann erhob es sich langsam auf die Hinterbeine. Der Pavian hielt sich mit beiden Händen an den Rändern der Öffnung fest, stand da wie das Zerrbild eines Menschen, größer als ein Mann, ein Titan von einem Primaten.
Fast lautlos schloss Aura die Tür. Gian sah sie mit geweiteten Augen an. Er hatte den Pavian nicht mehr sehen können, aber ihr Gesichtsausdruck musste Bände sprechen.
»Lauf!«
KAPITEL 17
Sie rannten durch einen Korridor mit kahlen Wänden, an dessen Ende eine einzelne Lampe brannte. Darunter befand sich eine weitere geschlossene Tür.
»Warum erschießt du ihn nicht?«, fragte Gian im Laufen.
»Damit die ganze Anstalt Bescheid weiß, dass wir hier sind?«
»Wir verhalten uns auch so nicht gerade unauffällig.«
Als sie die Tür erreichten, wechselte Aura den Revolver in die linke Hand und ergriff die Klinke. Abrupt hielt sie inne.
»Worauf wartest du?«
»Sei mal still.«
Beide blickten zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie standen im Schein der einsamen Glühbirne, aber am anderen Ende des Gangs war es nahezu stockdunkel. Nur mit Mühe war die Tür auszumachen, ein diffuses Rechteck inmitten der Finsternis.
Sie hielten die
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