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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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einem Halbkreis um den Treppenschacht bewegte, dann aber nicht die Stufen herabkam, sondern eine Tür öffnete und wieder zuzog.
    Womöglich dieser Professor.
    »Hat Tolleran Familie?«, flüsterte sie.
    »Soweit ich weiß, nicht.«
    Vielleicht hatte sie sich getäuscht und es waren auch im Herrenhaus Patienten einquartiert. Dann mussten sie mit Nachtschwestern oder Pflegern rechnen.
    Mit einem stummen Seufzer nickte sie zur Tür des Büros hinüber.
    Gian zeigte auf den Aktenschrank. »Was ist damit?«
    »Falls Gillian hier ist, dann nie und nimmer als Patient wie jeder andere.«
    »Was macht dich da so sicher?«
    »Ich glaube, dass deine Colette dir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat.«
    Er holte tief Luft, aber Aura brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen. Eine Diskussion über sein Urteilsvermögen konnten sie später noch führen, und lieber war es ihr, wenn das in seinem Atelier geschähe statt auf der nächsten Polizeistation oder in einer Zelle dieser Anstalt.
    »Wenn du willst, schau in den Akten nach«, sagte sie. »Ich nehme mir das Büro des Direktors vor.«
    Er legte die Pistole auf dem Schreibtisch des Vorzimmers ab,
schaltete seine Taschenlampe ein und zog die oberste Registratur auf. Aura nahm an, dass er nach dem Namen Lépicier suchte, aber sie hatte Zweifel, ob er auf diese Weise fündig werden würde. Etwas stimmte hier nicht. Auch wenn nichts darauf schließen ließ, dass man ihnen eine Falle gestellt hatte, schien doch einiges nicht zusammenzupassen. Dieser Name, zum Beispiel: Warum hatte man einen gewählt, der sich zur Institoris-Familie zurückverfolgen ließ? Und dann diese Krankenschwester, die mit Gian angebandelt hatte, um ihm davon zu erzählen. Falls Aura sich nicht in ihm täuschte, hatte es sich um ein hübsches junges Ding gehandelt – und sicher nicht um jemanden, der die körperlichen Voraussetzungen besaß, um mit einer Horde Geisteskranker umzugehen.
    Sie warf einen letzten Blick auf Gian, der voller Eifer in den Akten wühlte. Er war ihr Schwachpunkt, er machte sie verletzlich.
    Langsam öffnete sie die Flügeltür zum nächsten Zimmer, ließ ihre Taschenlampe aufleuchten, hielt sie aber auf den Boden gerichtet, damit der Schein nicht durch die Fenster nach draußen fiel. Holzgetäfelte Wände, Bücherregale bis zur Decke und ein Schreibtisch aus Mahagoni. Rundum Tollerans Erinnerungsstücke aus Afrika: hölzerne Masken mit hervorquellenden Augen und Raubtiergebissen; Speere mit Federschmuck, gekreuzt über dem offenen Kamin; eine Unzahl von Schnitzfiguren auf Ablagen und Regalen, manche trotz abnormer Proportionen verblüffend lebensecht.
    Vor den hohen Fenstern war die Nacht zu flächigem Schwarz geronnen. Im Inneren ließ der Schein der Taschenlampe die Masken Fratzen schneiden. Schatten wanderten über die Täfelung.
    Auf dem Schreibtisch lagen lose Dokumentenstapel. Wahrscheinlich war Tolleran der Ordnungssinn der französischen Oberschicht in den Fieberhöllen der Kolonialhospize ausgetrieben
worden. Aura beugte sich über die Papiere, überflog einzelne Zeilen, fand aber nichts, das ihr weiterhalf.
    Im Regal hinter dem Schreibtisch standen neben einem heidnischen Fetisch aus Holz und Federn eine Reihe von Aktenordnern. Sie legte einen auf den Boden und blätterte darin. Im Lampenschein erkannte sie Durchschläge von Rechnungen.
    Draußen im Vorzimmer erklang ein leises Poltern. Gleich darauf erschien Gian in der Tür. »Nichts passiert«, flüsterte er. »Nur eine der Kladden.«
    »Erklär das Tolleran, wenn er hier auftaucht.«
    Als er wieder hinter der Ecke verschwand, war ihr nicht wohl dabei. Sie hätte ihn lieber im Auge behalten.
    Statt sich die anderen Ordner vorzunehmen, ließ sie sich hinterm Schreibtisch nieder und sah nacheinander in alle sechs Schubladen. Sie öffnete Umschläge, blickte in Mappen und las den Anfang eines unvollendeten Briefes an ein Ministerium. In der letzten Schublade entdeckte sie eine Schachtel, groß genug für Formulare und andere Papiere. Sie hob den Deckel ab und fand zuoberst einen Flugschein nach Prag, eingelöst vor knapp vier Wochen. Ein zweites Ticket lag darunter, abgestempelt für den Rückflug nur einen Tag später. Dazu kam eine handgeschriebene Rechnung mit dem Briefkopf eines Prager Hotels und eine Quittung auf Tschechisch, ausgestellt in einem Varieté Nadeltanz , für eine Flasche französischen Rotweins. Hoffentlich legte Tolleran auch sonst wenig Wert auf Experimente.
    Hinzu kam der Durchschlag einer Rechnung, die

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