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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Sie war bereit, ihn aufzufangen, falls er zusammensank, doch Gillian blieb sitzen, sog Atemzug um Atemzug tief in seine Lunge, während seine Mimik an Leben gewann. Erst war es nur ein Zittern, dann wurde ein Beben daraus und zuletzt, als sie schon glaubte, sie hätte ihn trotz allem verloren, der Schatten eines Lächelns.
    »Gillian«, flüsterte sie, aber seine Lider blieben geschlossen, und ob er sie hörte, war ungewiss.
    Der Pavian gab leise, jammernde Laute von sich, während er versuchte, Tolleran zurück ins Leben zu holen. Aus dem Abflussgitter kamen Geräusche, ein Plätschern und Gurgeln in den Leitungen, und für einen Augenblick erweckte es den Anschein, als sauge das Gebäude selbst das Blut seines Gebieters in sich auf.
    Der Affe gab Tollerans Kopf einen leichten Stoß, der sein Gesicht zur anderen Seite rollen ließ, klopfte auf seine blutige Brust, zog sanft an seinen Haaren.
    »Gillian«, sagte Aura leise. »Wir schaffen dich jetzt von hier fort.«
    Er konnte nicht aus eigener Kraft aufstehen, erst recht nicht
laufen, aber sie hatte vorhin eine Liege auf Rollen irgendwo im Saal gesehen und sprang auf, um sie zu holen. Während der Affe sie weiter ignorierte, hob sie gemeinsam mit ihrem Sohn Gillian auf das Gefährt.
    Gian schob die Glasflasche zurück in den Schutzbehälter und beides in die Tornistertasche. Aura hängte sie sich um, dann schoben sie die Liege durch die Halle zum Ausgang. Gillian sah aus, als schliefe er. Er musste so schnell wie möglich versorgt werden, aber Gians Atelier war ein besserer Ort dafür als dieses Irrenhaus.
    Als Aura ein letztes Mal vom Gang aus zurücksah, schwang sich der Pavian auf die Drehplattform, dann auf den verwaisten Stuhl. Dort blieb er sitzen, ein Affenkönig auf seinem Thron, und blickte blutbesudelt hinab auf den Leichnam; womöglich dachte er darüber nach, was ihm jetzt noch zu tun blieb, oder vielleicht dachte er auch gar nichts.
    Sie rollten die Liege in den Aufzug und fuhren hinab ins Erdgeschoss. Sehr weit entfernt erklangen die Stimmen der Insassen in ihren Zellen. In Paris würde Aura die Gendarmerie alarmieren und anonym über einiges von dem in Kenntnis setzen, was im Saint Ange geschehen war.
    Der Mond schien, als sie den schlafenden Gillian über eine Rampe auf den Vorplatz rollten, bis Kies unter den Rädern knirschte. Gian brachte eines der Automobile aus den Stallungen zum Laufen. Er war schweigsam, wirkte aber eher nachdenklich als verstört; er brauchte Schlaf, genau wie sein Vater. Noch lag der Weg zurück in die Stadt vor ihnen, aber dann konnte auch er zur Ruhe kommen.
    Aura würde über die beiden wachen.

     
    Im Morgengrauen saß sie mit angezogenen Knien in Gians Korbstuhl, sah durch die hohen Atelierfenster in die verqualmte Dämmerung über den Dächern von Paris und kämpfte gegen ihre Erschöpfung an. Körperlich war sie am Ende, völlig übermüdet und ausgelaugt. Sie redete sich ein, dass ihr Geist so wach war wie eh und je; aber die wenigen Gedanken, die sie zustande brachte, kreisten allesamt um Gillian, so als hätte das Wiedersehen mit ihm ihr ganzes Leben auf einen neuen Mittelpunkt fixiert.
    Dabei bezweifelte sie, dass er sie überhaupt wahrgenommen hatte. Auf Tollerans Folterstuhl hatte er sie nur kurz angesehen und sich dann seinem Peiniger zugewandt. Seitdem waren seine Lider geschlossen; er lebte, atmete, war aber ohne Bewusstsein. Gian hatte noch in der Nacht einen Arzt rufen wollen, aber Aura bestand darauf, kein Aufsehen zu erregen. Gemeinsam hatten sie Gillian gesäubert, seine Verletzungen desinfiziert und mit Salben bestrichen; in Auras Tasche aus dem Alchimistenlabor steckte mehr als nur die Phiolen. Vieles unterschied sich kaum von dem, was auch ein Arzt verwendet hätte, und einiges war wirkungsvoller.
    Was ihr größere Sorgen bereitete, war Gillians Geisteszustand. Sein leerer Blick verfolgte sie, sobald sie im Korbsessel einzuschlafen drohte, und die Erinnerung daran hielt sie bis zum Sonnenaufgang wach.
    Sie machte sich nichts vor, ganz gleich, wie stark ihre Gefühle für ihn waren. Achtzehn Jahre ließen sich nicht ungeschehen machen, so wenig wie das, was sie ihm damals angetan hatte. Hätte er sie während all der Zeit wiedersehen wollen, hätte er sie finden können. Stattdessen war er in Spanien geblieben, in der Festung des Templum Novum. Bei Karisma.
    Vor zehn Jahren, bei ihrer Begegnung in der Sierra de la Virgen, hatten sie vereinbart, dass sie Freunde bleiben würden. Aber Freunde besuchten

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