Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

als nur eine Arbeit. «
    Geschmeichelt strich er sich über den Bart. »Heute noch viel mehr als damals.«
    »Erklären Sie mir das?«
    Er ließ seinen Blick über den Platz vor der Aposteluhr wandern, jenem astrologischen Kunstwerk am Altstädter Rathaus, über das Aura mehr alchimistische Traktate gelesen hatte als über irgendein anderes Stück Feinmechanik. Farbige Scheiben und Zifferblätter rotierten hoch oben an der Fassade umeinander, aber Balthasar verschwendete kein Wort darüber: Die Uhr war keine Station auf der Route der Vögel. Vielmehr deutete er mit einem Nicken auf die Menschen, die den weitläufigen Platz bevölkerten.
    »Sie haben keine Ahnung«, sagte er mit Bitterkeit in der Stimme, »in welcher Gefahr sie tagein, tagaus schweben. Sicher
sind sie nur, solange die Route befahren wird, von einem Ende zum anderen.«
    »Die Route der Vögel ist eine Art Siegel?«
    »Eher ein Band, das die Stadt mit Normalität umschnürt. Oder eine Kette, die den Deckmantel der Wirklichkeit auf diesen Häusern und Straßen hält, damit der Irrsinn darunter nicht zum Vorschein kommt. Ich fahre die Route jeden Tag, ohne Ausnahme, bei Sonne oder Regen oder Schnee – im Winter mit einem alten Schlitten –, und wenn ich von Mitternacht zu Mitternacht einmal die ganze Strecke vom Anfang bis zum Ende abgefahren bin, bleibt alles beim Alten. Prag ist dann auch am nächsten Morgen noch die Stadt, die alle diese Leute kennen. Aber gnade uns Gott, falls mich einmal etwas wirklich Ernstes aufhalten sollte und die Route einen Tag lang unvollständig bliebe – dann würde der Bann aufgehoben und der Geistersturm bräche über uns alle herein.«

KAPITEL 22
    »Heißt das«, fragte Aura und bemühte sich um den Anschein neugieriger Einfalt, »ohne Sie würde es hier spuken ?«
    Jetzt lachte Balthasar sie aus und das klang nicht sehr freundlich. »Hier in Prag spukt’s von jeher an allen Ecken und Enden, und noch viel mehr, seit sich überall die verrückten Okkultisten breitmachen wie das Unkraut auf den Stiegen des Hradschin. Nein, wovon ich rede, das ist eine verdammte Invasion! Der Untergang von allem! Stell dir vor, das Straßenpflaster bräche auf und heraus stiegen die Geister aller Menschen, die jemals hier gelebt haben. Das ist es, was von der Route im Zaum gehalten wird.« Sein heiseres Gelächter ging in ungesundes Husten über. Abermals wieherte der Schimmel. Balthasar fuhr plötzlich zu Aura herum und deutete mit seinem breiten Zeigefinger auf sie. »Du sitzt doch nicht hier oben, weil du dich so sehr für die Häuser der Vögel interessierst. Wahrscheinlich glaubst du kein Wort von dem, was ich dir erzähle. Spielt aber keine Rolle, solange nur ich selbst daran glaube.«
    »Kennen Sie wirklich jeden Alchimisten in Prag?«
    »Nun kommen wir der Sache näher. War mir schon klar, dass du’s darauf abgesehen hast.«
    »Es heißt, dass viele von uns, die zum ersten Mal nach Prag kommen, mit Ihnen die Route fahren, um die Stadt kennenzulernen. Die Besonderheiten dieser Stadt.«
    »Apropos.« Er nickte hinüber zu einem Gebäudekomplex, der sich wie ein barocker Ozeandampfer zwischen den Häusern zu ihrer Rechten hervorschob. »Das Klementinum. Unsere zweite Station.«

    Aura ließ ihren Blick über die gelbe Fassade wandern, bis hinauf zu den rotbraunen Dächern. »Wo sind die Vögel?«
    »Im Inneren verborgen. Früher war das eine Jesuitenschule, heute gehört alles zur Universität. Das Klementinum ist der zweitgrößte Bau der Stadt, gleich nach dem Hradschin. Aber wir sind nicht hier, um uns von Größe beeindrucken zu lassen, nicht wahr? Für uns ist einzig der Mathematiksaal von Interesse. Dort gibt es in den Fensternischen einige Reliefs, die kaum einer kennt. Vier Vögel als Personifizierung der vier Elemente: Der Phönix steht für das Feuer, der Schwan für das Wasser, der Adler für die Luft und der Fasan für die Erde. Die vier Elemente des Großen Werks. Manche behaupten, dies sei der geheime Schlüssel zur Sprache der Vögel. Dadurch, dass man hier den vier bedeutendsten Begriffen der Alchimie Vogelnamen zugewiesen hat, ist vielleicht auch der Rest zu erschließen. Wie bei einer Geheimschrift – kennt man erst ein paar Buchstaben, lassen sich mit etwas Geduld auch alle anderen entziffern.«
    Während die Fassade des Klementinums an ihnen vorüberzog, dachte Aura an Konstantin. Er beschäftigte sich seit Langem mit der Argot  – der Sprache der Vögel, dem vergessenen Code der ersten Alchimisten –