Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
setzte er ein wenig abfällig hinzu. »Nennt sich selbst Sophia Luminique. Keine Ahnung, wie sie wirklich heißt, wahrscheinlich weiß das keiner mehr. Aber sie ist alt, vielleicht so alt wie ich – auch wenn sie nicht so aussieht.« Wieder stieg das schallende Lachen aus seiner Brust.
»Sophia Luminique ...« Nie gehört. »Wann haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Als sie in die Stadt kam. Tauchte genau wie du an meiner Haltestelle am Turm auf und wusste Bescheid über mich und über die Route der Vögel. Aber wann das war?« Er knetete sein Doppelkinn unter dem Bart. »An die zweihundert Jahre dürfte das her sein, schätze ich. Danach hab ich nie wieder ein Wort mit ihr gewechselt. Hab nur gehört, dass sie eine Weile in allen möglichen Lokalen aufgetreten ist, immer als Tänzerin, und dass sie bald einen ziemlichen Ruf hatte. Offenbar verstand sie was von dem, was sie da tat. Später hat sie dann das Nadeltanz übernommen. War ein ziemlich heruntergewirtschafteter Laden, den es schon eine halbe Ewigkeit gibt, mal unter diesem, mal unter anderem Namen. Sie hat den Schuppen auf Vordermann gebracht und es gibt dort nur eine einzige Attraktion – Sophia selbst.« Balthasar grinste. »Manchmal hört man, dass sich die Leute wundern, wie jung sie ist. Aber letztlich gibt es immer Wichtigeres, über das man sich hier das Maul zerreißen kann. All die verfluchten Geisterbeschwörer mit ihren Séancen und spiritistischen Sitzungen. Dann die Morde an den armen Mädchen. Von der Politik ganz zu schweigen.«
»Morde an Mädchen?«
Der Kutscher nickte. »Den Kerl, der’s getan hat, den haben sie nie gefangen. Aber vor ein paar Monaten war plötzlich Schluss
damit. Vielleicht hat ihn einfach die Trambahn überfahren, wer weiß das schon.«
Sie erreichten das Westufer der Moldau. Die Karlsbrücke führte ein gutes Stück weiter zwischen die Häuser der Kleinseite, wo sie als sanfte Rampe auslief und in eine schattige Gasse überging. Das Hufgeklapper der Pferde hallte zwischen den Mauern wider und klang viel lauter als draußen über dem Fluss.
»Erzählen Sie mir von diesen Morden.«
»Wenn du mich fragst, sind auch daran die Okkultisten schuld. Mit ihren gottverdammten schwarzen Messen, ihren Beschwörungen und Anrufungen, all dem Zeug eben ... Unsereiner versucht die Geister fernzuhalten, aber die haben nichts Besseres zu tun, als sie herbeizurufen, und das in rauen Mengen. Und wer weiß schon, ob sie dabei nicht ab und zu eine Jungfrau opfern. Verdammich, wer weiß das schon.«
Aura ließ ihn einfach reden, und nachdem er sich erneut über den drohenden Sturm der Geister ereifert hatte, kam er schließlich wieder auf die toten Mädchen zu sprechen.
»Ein gutes Dutzend war’s, vielleicht noch mehr. Eine oder zwei im Monat. Irgendwer hat sie einfach von der Straße weggefangen.« Er versuchte mit seinen wulstigen Fingern zu schnippen, aber allzu gut klappte das nicht. »Weg waren sie – einfach so.«
»Und die Leichen?«
Die Kutsche klapperte weiter über das Pflaster, jetzt bergauf zum Hradschin. »Die meisten hat man ein paar Tage später im Fluss gefunden. Ein paar sind ganz verschwunden. Vielleicht sind sie weiter stromabwärts getrieben, wo keiner sie mehr findet.«
Aus Auras Erinnerung stiegen Bilder auf wie Mädchengesichter aus den Tiefen der Moldau: Sie sah sich in der Berghütte in den Schweizer Alpen, verfolgt von einem Mann im Kapuzenmantel. Sie erinnerte sich an die Grube hinter dem Haus, die
Grube mit den menschlichen Überresten. Und an das Mädchen, das sie hatte sterben sehen. Wie war ihr Name gewesen? Gott, sie konnte doch nicht ihren Namen vergessen haben.
Maria? Martha?
Über Jahrhunderte hinweg hatten Nestor, Lysander und Morgantus mit dem Blut junger Frauen experimentiert. Sie hatten ihre eigenen Töchter abgeschlachtet, dann deren Töchter.
Vielleicht hat ihn einfach die Trambahn überfahren.
Marla, natürlich.
Die blutende, sterbende Marla.
Und Morgantus mit seinem Messer.
KAPITEL 23
Gillian saß auf dem Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und hielt mit beiden Händen eine Blechtasse voll dampfendem Kaffee. Das Metall war heiß wie ein Ofenrohr und verbrannte seine Finger, aber er spürte es kaum.
»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Seine Stimme klang heiser, seine Kehle fühlte sich an, als hätte er mit Sand gegurgelt.
»Du hast jahrelang nichts gesagt«, entgegnete Gian. »Warum jetzt damit anfangen?«
»Tut mir leid.«
»Ist schon in Ordnung.«
»Nein.
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