Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
und den Hinweisen darauf in der Architektur gotischer Kathedralen. Aber auch er war bislang daran gescheitert. Schwer vorstellbar, dass die Lösung des Rätsels ausgerechnet hier in Prag versteckt sein sollte, unter den Augen all jener, die nur darauf warteten, das Geheimnis endlich zu enthüllen.
»Falls diese Reliefs wirklich der Schlüssel sind«, sagte Aura, »hätte irgendwer die Sprache längst decodiert.«
»Hunderte haben es versucht. Aber die Vögel offenbaren ihr Mysterium nicht jedermann.« Balthasar hob die schweren Schultern. »Und, wer weiß – vielleicht hat die Argot einfach keine Bedeutung mehr, die wir heute noch verstehen könnten.«
Balthasars übler Geruch vermischte sich mit dem Kloakengestank der Gassen, den Essensdämpfen aus offenen Fenstern und dem Geruch der Pferdeäpfel auf dem Pflaster. Automobile fuhren in der Enge der Altstadt fast keine.
»Werden Sie mir helfen?«, fragte Aura. »Ich brauche Informationen über die alchimistische Bewegung hier in der Stadt, die wichtigsten Persönlichkeiten, die mächtigsten Zirkel. Alles, was von Bedeutung sein könnte, wenn ich mich in diesen Kreisen bewegen will.«
»Geduld. Noch sind wir nicht am Ziel angekommen.«
In Frankreich hätte sie sich unauffällig unter eine der zahllosen Gruppen mischen können, in der Hoffnung, etwas aufzuschnappen, das ihr weiterhalf bei ihrer Suche nach Gillians Entführern. Hier jedoch würde das weit schwieriger werden: Die Strukturen der Prager Alchimistenzirkel galten als verkrustet und schwer zugänglich.
Vielleicht war es am sinnvollsten, einfach abzuwarten. Falls sich ihre Vermutung bestätigte, dass Gillians Demütigung vor allem dazu dienen sollte, sie hierherzulocken, dann würde früher oder später jemand Kontakt zu ihr aufnehmen. Das war ein weiterer Grund, weshalb sie neben Balthasar auf dem Kutschbock saß. Es war eine Botschaft an jene, die es auf sie abgesehen hatten: Hier bin ich – nun seid ihr am Zug.
»Wir kommen gleich zum Kreuzherrenplatz«, sagte der Alte und blickte stur über seine Rösser hinweg. »Dort drüben, das ist die Kirche Sankt Franziskus.« Wortreich wies er sie auf zwei Vogelabbildungen zwischen weiteren Steinemblemen hin, hoch oben an der Fassade. Das eine Tier trug einen Zweig, das andere saß in einem Nest. Balthasar bot verschiedene alchimistische Deutungen an, aber Auras Aufmerksamkeit wanderte längst hinüber zur Karlsbrücke und dem Altstädter Brückenturm, die in diesem Moment vor ihnen auftauchten.
Der mächtige Torturm, das Gegenstück zum Pulverturm im
Osten der Altstadt, entpuppte sich als vierte Station der Route. Legenden rankten sich um vier steinerne Eisvögel im Mauerwerk. Ließ sich ein Eisvogel auf einem Schatz nieder, so hieß es, vervielfachte sich dadurch dessen Wert – ein Hinweis auf das Aurum Potabile . Dafür sprach auch die Ausrichtung des Tors zum Schloss hin, das vor Jahrhunderten der Schauplatz ungezählter Experimente gewesen war.
Während Balthasars Ausführungen tat Aura interessiert, wartete aber in Wahrheit nur darauf, dass zwischen den einzelnen Häusern der Vögel genug Zeit blieb, um ihm jene Fragen zu stellen, die sie tatsächlich beschäftigten.
Die Gelegenheit kam beim Überqueren der Karlsbrücke, während sich vor ihnen das Panorama der Kleinseite entfaltete, des uralten Viertels unterhalb der Prager Burg. Menschen strömten in beiden Richtungen über die Brücke, passierten die kunstvollen Statuen an den Brüstungen und zeigten sich unbeeindruckt vom Anblick der Stadt zu beiden Seiten des Flusses.
»Kennen Sie das Variete Nadeltanz?«, fragte sie, als Balthasar ankündigte, es werde eine ganze Weile dauern, ehe sie die nächste Station erreichten.
»War noch nie drinnen, falls du das meinst.«
»Aber Sie haben davon gehört.«
»Wer nicht.«
»Ist das ein Ort, an dem sich Alchimisten treffen?«
Im Dickicht seines grauen Barts zuckten die Mundwinkel. »Kann ich mir kaum vorstellen.«
Trotzdem ließ sie nicht locker: »Aber es ist kein Variete wie alle anderen, oder?«
»Die Besitzerin ist eine von uns.«
Aura horchte auf. »Eine Alchimistin oder —«
»Eine Unsterbliche. Ich kann das ewige Leben an den Menschen riechen. Ich kann’s in meinen Knochen spüren, so wie andere ein heraufziehendes Unwetter. Und diese Sophia ... bei
ihr standen mir die Nackenhaare zu Berge, wenn du verstehst, was ich meine.«
»Sophia. Und weiter?«
»Ist nicht ihr richtiger Name. Sie ist Künstlerin, sagt sie ... Tänzerin«,
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