Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
braunes Haar war zu lang, wie bei einem Mann, der erst dann zum Friseur geht, wenn seine Frau ihn daran erinnert. Estella würde ihm einen solchen Hinweis wohl kaum geben, keiner von beiden bemühte sich um den Anschein einer harmonischen Ehe.
Sophia hatte schon während der Vorspeise als Einzige fröhlich geplaudert, und sie machte auch beim opulenten Hauptgang keine Pause. Dabei blendete sie die steife Atmosphäre dieser Abendgesellschaft vollkommen aus. Ludovico und Estella bedeuteten höchstens einmal durch Nicken oder Kopfschütteln, dass sie zuhörten, ganz gleich, ob Sophia über die wechselhafte Geschichte dieses Hauses oder das Herbstwetter sprach. Selbst ein launiger Monolog über die verschärfte Kontrolle des öffentlichen Alkoholausschanks entlockte den beiden nicht mehr als ein gepresstes Murren.
Auffällig war, dass sie dabei Sophias Blicke mieden so gut es nur ging. Wenn sie einen von ihnen direkt ansprach, reagierten sie höchst unterschiedlich: Der Hausherr schien sich unter dem Klang ihrer Stimme zu ducken, während Estella Octavian sogleich noch steifer dasaß und sich die gespitzten Lippen endlos mit einem Serviettenzipfel abtupfte, so als hätte Sophia versucht, sie zu küssen, und dabei einen abscheulichen Speiserest hinterlassen.
Die Kinder der beiden, Adam und Oda Octavian, behandelten Sophia wie eine ältere Tante, der man Respekt entgegenbringt, ohne sie zu mögen. Das wirkte schon deshalb bizarr, weil Sophia äußerlich gut zehn Jahre jünger war als die Geschwister. Adam mochte ein wenig älter sein als seine Schwester Oda, um die dreißig. Während Aura ihm verstohlen beim Essen zusah, bemerkte sie, dass seine schlanken Hände mit verheilten Brandwunden
übersät waren. Er war dunkelhaarig, trug einen perfekt sitzenden Anzug und war durchaus ansehnlich, ignorierte man seine Raubvogelnase. Sie war ein Erbe seiner Mutter Estella. Ansonsten aber besaß Adam die weicheren Züge seines Vaters, nur dass sie an ihm sensibel wirkten und nicht schwächlich.
Ob indes auch seine Schwester Oda Ähnlichkeit mit ihren Eltern besaß, blieb ungewiss, denn sie hatte ihr Gesicht mit Schminke und Puder in das einer Puppe verwandelt. Ihre Haut war schneeweiß, die Augen dunkel umrandet, der Mund blutrot. Aura hatte schon bei der Begrüßung den Eindruck gewonnen, dass Oda zurückgeblieben war, und beim Essen schien sich dies zu bestätigen. Sie spielte erst mit dem Besteck und dann mit Fleisch und Gemüse, wobei sie so gut wie nichts zu sich nahm. Statt aus einem Glas trank sie aus einem hohen Keramikbecher, der so abgegriffen aussah, als benutzte sie ihn seit ihrer Kindheit; während des Hauptgangs stellte sie ihr Messer mit der Klinge nach unten in den vollen Krug, was alle anderen geflissentlich ignorierten.
Oda hatte ihr braunes Haar zu einem Knoten gebunden. Strähnen hatten sich gelöst und verliehen ihr etwas Zerzaustes, das charmant hätte sein können, in Verbindung mit dem grotesken Maskengesicht jedoch nur unbeholfen wirkte. Es war, als wohnte im Körper dieser Frau der Verstand einer Zehnjährigen, die zum ersten Mal das Schminkzeug ihrer Mutter entdeckt hatte und der Meinung war, sich besonders hübsch gemacht zu haben. Dazu passte auch ihr stolzierender Gang, mit dem sie im Speisezimmer aufgetreten war, als trüge sie eine gewagte Modekollektion zur Schau.
Sophia redete unentwegt, während die Dienerschaft als Nachtisch Petits Fours servierte, Estella und Ludovico gelegentlich etwas murmelten, Adam schweigend sein Essen einnahm und Oda sich über die rot bemalten Lippen leckte, sobald jemand – vor allem ihr Bruder – in ihre Richtung blickte.
Und Aura hatte geglaubt, ihre Familie sei nicht mehr zu retten.
Schließlich verstummte das Ticken, als die Grammophonnadel das Ende der Schellackplatte erreichte. Oda machte mit der Zunge am Gaumen Geräusche, die den Rhythmus fortsetzten. Klick-klock. Klick-klock.
Da erhob sich Severin Octavian von seinem Platz jenseits des Blumengestecks, ging mit einem Ausdruck von Abscheu zu dem Gerät hinüber und setzte es erneut in Gang. Während das Ticken abermals begann und Oda zum Schweigen brachte, wandte Severin sich an Aura und Sophia: »Wenn die Damen mich entschuldigen würden, ich habe noch zu tun. Aber dürfte ich Sie, Frau Institoris, zuvor noch fragen, was Sie nach Prag geführt hat?«
Keine Spur von Ähnlichkeit verband ihn mit seinem Bruder Ludovico. Severin mochte um die Siebzig sein. Er besaß volles graues Haar, trug einen
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