Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
Inneren, alles war vollkommen still. Sie sah ihre Hand in die Dunkelheit eintauchen und spürte nichts. Keine Kälte, kein Kribbeln, nicht einmal einen Luftzug. Als ihr Arm bis zum Ellbogen darin verschwunden war, überkam sie ein Anflug intensiver Furcht. Was, wenn gerade etwas um ihre Finger kreiste? Aber sie kämpfte dagegen an, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Dann erst trat sie langsam zurück zu den anderen.
Sophia hob die Schultern. »Unheimlich ist es eigentlich nur, wenn man darüber nachdenkt. Sonst ist es einfach nur fehlendes Licht.«
»Sehr beruhigend.«
»In der Tat«, bemerkte Adam. »Sagen Sie das jemandem, der in diesem Haus lebt.«
In seinem Blick suchte sie vergeblich nach Sarkasmus. Sie mochte ihn nicht, hätte aber nicht sagen können, warum. Von allen Octavians am Tisch schien er der umgänglichste zu sein und Sophia hatte offenbar eine engere Beziehung zu ihm als zum Rest.
Die Drei machten sich wieder auf den Weg, diesmal die Treppe hinauf. »Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte Adam. »Es geschieht nie irgendetwas – abgesehen davon, dass der eine oder andere schon gegen eine Tür gelaufen ist, wenn er versucht hat, eines der Zimmer hinter der Dunkelheit zu betreten.«
»Sie scheint das nicht allzu sehr zu bekümmern.«
»Ich bin ein Octavian. Ich habe Verrückteres erlebt.«
In einem der oberen Stockwerke traten sie aus dem Treppenhaus und ließen damit auch die Dunkelheit hinter sich. Adam und Sophia passierten eine Abzweigung, aber Aura hielt inne, machte einen Schritt zurück und blickte noch einmal in die Korridormündung. Der Gang war leer.
Sophia bemerkte, dass Aura zurückgeblieben war. »Was ist?«
»Gibt es Kinder hier im Haus?«
»Kinder?« Sophia tauschte einen Blick mit Adam und massierte ihren Schwanenhals. »Adam, hat irgendwer aus der Dienerschaft Kinder, die er mit herbringt?«
»Selbstverständlich nicht. Mutter hasst Kinder – ganz besonders ihre eigenen, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass sie fremde mehr mag.«
Sophia wandte sich an Aura. »Was hast du denn gesehen?«
»Einen rosa Grizzlybären, Sophia. Deshalb frage ich auch nach Kindern.«
Die Tänzerin kam herbei und folgte ihrem Blick den abzweigenden Flur hinab. »Niemand da.«
»Das sehe ich auch.«
»Wir haben hier keine Kinder«, sagte Adam. »Kommen Sie, wir sind gleich da.«
Sophia ergriff wieder ihre Hand, aber diesmal zog Aura ihre Finger zurück. Sie hatte einen Umriss gesehen, klein und schmal, reglos am Ende des Ganges.
Jetzt drang ein Flüstern aus dem leeren Korridor.
»Ich«, wisperte die Stimme. »Ich.«
Das klang nicht wie ein Kind.
Sophia warf Aura einen Seitenblick zu, der fast vorwurfsvoll wirkte, dann schaute sie den Gang hinunter. »Adam«, rief sie, »da ist wirklich jemand.«
»Eines der Dienstmädchen, vielleicht. Ein paar von ihnen sind« — er hob eine Augenbraue — »nicht sehr groß.«
Das Wispern aus dem Gang wiederholte sich nicht. Aura dachte an Balthasars Gerede über den Geistersturm und all die alten Spukgeschichten, die sie im Leben gehört hatte. Umhergeisternde Kinder gehörten zum festen Repertoire.
Einen Moment später schlossen die beiden Frauen wieder zu Adam auf, und bald sagte Sophia: »Da vorn ist es.«
Sie bogen um eine Ecke. Vor ihnen öffnete sich ein breiter
Gang, fast ein Saal, der sich auf ganzer Länge von der Straßenfront bis zur Rückseite des Palais erstrecken mochte. Die rechte Wand war abgeschrägt und mit Balken abgestützt, augenscheinlich ein Teil des Daches.
Zu ihrer Linken, entlang einer hohen Ziegelwand, stand eine schier endlose Reihe menschlicher Gestalten, reglos und schweigend. Es roch intensiv nach Kerzen wie in einer Kirche.
»Die Ahnengalerie der Octavians«, sagte Sophia. »In diesem Haus ist es Tradition, die Mitglieder der Familie als Wachsfiguren zu verewigen. In früheren Generationen wurde das oft von bezahlten Künstlern erledigt, aber wann immer sich ein Talent innerhalb der Familie findet, wird ihm diese Aufgabe übertragen. Und manchmal« — ergänzte sie mit wohlwollendem Blick in Adams Richtung – »hat sich der eine oder andere schon als Genie erwiesen.«
Aura sah an der langen Reihe der Octavians entlang. »Wie viele von denen stammen von Ihnen?«
»Nur die Letzten«, sagte er. »Im Augenblick arbeite ich an meiner Schwester. Sie war die Einzige, die Spaß daran hatte, mir Modell zu sitzen.«
»Estella und Ludovico waren nicht sehr kooperativ«, erklärte Sophia. »Dabei hätte
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