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Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Die Alchimistin 03 - Die Gebannte

Titel: Die Alchimistin 03 - Die Gebannte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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waren kalte, blaue Augen«, wiederholte Sophia mit Nachdruck. »Und ich vermute, derjenige, der sie ihr ausgestochen hat, wird gute Gründe dafür gehabt haben. Estellas Vater ... er wollte sie zum Schweigen bringen. Er hat behauptet, Zuzanas Stimme zu hören. Dass sie mit ihm redete, wenn er hier oben mit den Figuren allein war. Dass sie ihm keine Ruhe ließ.«
    Adam presste die Lippen aufeinander und nickte.
    Zuzana Octavian war eine kleine Frau gewesen, mit schmalen Schultern und flachen Brüsten. Sie trug Männerkleidung – Hose, Stiefel und Hemd, darüber einen Gehrock –, das lange braune Haar hing ihr offen über den Rücken, vermutlich weil die Frisur einer Wachsfigur erst im letzten Arbeitsschritt fertiggestellt wurde.
    »Ist das Menschenhaar?«, fragte Aura.
    »Pferdehaar«, entgegnete Adam. »Ich habe ihren Kopf vollständig erneuert; das alte Haar war verfilzt und ist zerfallen, sobald man es berührt hat.«
    »Sie sieht so jung aus.«
    »Das Gesicht ist ein Abguss der Originalfigur, ich habe nur die Risse und Löcher ausgebessert, die mit der Zeit hineingeraten sind. Mag sein, dass dabei ein paar Falten der echten Zuzana verloren gegangen sind.«
    »Nein«, widersprach Sophia, »sie hat genau so ausgesehen.«
    Aura trat auf die Figur zu und musterte sie aus der Nähe. Über die Kehle verlief horizontal eine Kerbe wie ein schlecht verheilter Schnitt. Dort hatte Adam den neuen Kopf auf dem alten Torso befestigt. Zuzanas Miene wirkte trotz ihrer offensichtlichen
Jugend und der von Sophia behaupteten Abenteuerlust kraftlos, ganz anders als das Gesicht der wächsernen Oda, das vor Übermut zu leuchten schien.
    »Sie sieht nicht aus wie jemand, der auf der ganzen Welt nach Schätzen sucht«, sagte Aura. »Eher lethargisch.«
    »Ich wollte sie nicht verändern«, erwiderte Adam. »Ich bilde die Wirklichkeit ab, sonst nichts.«
    Sophia trat vor die Figur und strich ihr fast zärtlich über die Wange. »Zuzana war kein Mensch, der sich in Gips packen ließ, um als Wachsfigur auf einem Dachboden zu enden. Sie war eitel, aber auch voller Ungeduld. Zu ihren Lebzeiten hätte sie diese Prozedur niemals über sich ergehen lassen.«
    »Du meinst —«
    »Der Abdruck ist von ihrer Leiche genommen worden. Als sie starb, wurde statt einer Totenmaske eine Wachsfigur angefertigt, die erste in der Ahnenreihe der Octavians.« Die weißen Augen in dem leeren Gesicht sahen mit einem Mal noch lebloser aus. Sophias Lächeln hingegen wirkte frisch und mädchenhaft; sie verkörperte alles, was der blinden Wachsfigur fehlte. »Manche haben behauptet, sie hätte ihr eigenes Todesurteil unterschrieben, als sie die Galionsfigur von ihrem Schiff sägen ließ. Danach hat sie noch drei weitere Fahrten unternommen, und bei jeder kam es zu Unfällen mit Toten unter der Besatzung. Zuletzt geriet das Schiff in ein Unwetter, nicht weit vor der kurischen Küste. Zuzana war eine der wenigen Überlebenden.« Sophia zuckte die Schultern. »Danach ist sie nie wieder zur See gefahren.«

KAPITEL 32
    Allein in der Nacht, auf dem Weg zum Hotel Karmelitskä, sah Aura die Dunkelheit vor sich herlaufen wie ein Tier, das sich nicht entscheiden konnte, in welchem Torbogen es ihr auflauern wollte.
    War ihr die Schwärze aus dem Palais Octavian auf die Straße vorausgeeilt? Sophia hatte sie begleiten, ihr zumindest einen Wagen rufen wollen, aber Aura hatte beides abgelehnt. Sie wollte allein sein, wollte nachdenken, die Eindrücke der vergangenen Stunden auf sich wirken lassen und sich überlegen, wie sie die Dinge selbst in die Hand nehmen konnte.
    Und so schritt sie langsam durch die nächtlichen Gassen der Kleinseite, aus einem Lichtkreis der Straßenlaternen in den nächsten. Folgten diese Licht-und-Schatten-Muster einem System, sobald man sie von oben betrachtete – ein geheimes Alphabet aus Hell und Dunkel, das nur der Mond entziffern konnte?
    Sie war ehrlich genug zu sich selbst, um zu wissen, dass sich beim Anblick der Säule aus Dunkelheit im Zentrum der Wendeltreppe eine tiefe Unruhe in ihr festgesetzt hatte. Ihr Vater mochte in seiner Bibliothek unter dem Dach mit den Widersprüchen von Alchimie und Okkultismus gehadert haben; Aura hingegen hatte sich nie zum Spiritismus hingezogen gefühlt. Geistererscheinungen, Seancen und Spuk übten kaum mehr als eine oberflächliche Faszination auf sie aus.
    Doch welche Erklärung konnte es für die Ballungen aus Schwärze geben, die sich in den Winkeln des Palais Octavian eingenistet hatten? Und warum

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