Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
blickte den beiden mit wachsender Verwunderung entgegen.
Sie kannte diese Stimmen.
Die Frauen traten ins Lampenlicht.
KAPITEL 33
Die Pension am Wiener Hofgarten, in der Gillian und Aura vor siebenundzwanzig Jahren ihre erste gemeinsame Nacht verbracht hatten, existierte noch immer. Der Name hatte sich geändert, alles war adretter und plüschiger geworden, aber über der Tür hing wie damals ein Schild mit der Aufschrift Fremdenzimmer frei, und der Lärm der Trambahnen drang scheppernd vom Opernring herüber.
Gillian zog sich die Ärmel seines Mantels bis zu den Daumen herab, ehe er das enge Foyer betrat. Niemand sollte das getrocknete Blut zwischen seinen Fingern sehen.
Mit einem knappen Gruß passierte er die grauhaarige Frau hinter der Rezeption. Er hatte kaum die Treppe erreicht, als sie hinter ihm herrief: »Den Schlüssel beim Verlassen des Hotels immer abgeben, bitt’schön.«
Er drehte sich nicht um. »Tut mir leid.«
»Es geh’n halt so viele verloren. Ein Vermögen kost’ das!«
»Kommt nicht wieder vor.«
»Warten’s doch mal ...«
Er achtete nicht weiter auf sie und eilte die Stufen hinauf. Erst auf dem Treppenabsatz des zweiten Stockwerks blieb er stehen. Hinter einer hohen Glastür lag der Gang zu den Zimmern. Er wollte sichergehen, dass er dort niemandem begegnete, wartete kurz ab und horchte. Nichts zu hören.
Er nahm den Zimmerschlüssel aus der Manteltasche und umfasste den schweren Messinganhänger mit der Faust, damit nicht auffiel, dass das Metall voller Blut war. Er war wie immer unbewaffnet in die Katakomben hinabgestiegen und das klobige
Ding war ihm gerade recht gekommen, um damit einem allzu verstockten Schnapsschmuggler die Zähne einzuschlagen. Es hatte eine Weile gedauert, aber schließlich war er sicher gewesen, dass der Mann ihm alles verraten hatte, was er wusste.
Dabei hatte Gillian an seinem ersten Tag in der Stadt kaum Neues erfahren. Lysander, einst der uneingeschränkte Herrscher der Wiener Unterwelt, war spurlos verschwunden, zwei Jahre nach den Ereignissen in den Kellern der Hofburg. Damals hatten Gillian und Aura versucht, die kleine Sylvette aus Lysanders Gewalt zu befreien, ohne zu ahnen, dass er der leibliche Vater des Mädchens war. Gemeinsam mit Auras Stiefbrüdern Christopher und Daniel waren sie in das Allerheiligste des Unterweltkönigs eingedrungen und von dessen Lakaien, den Fettfischern, verraten worden. Daniel war ums Leben gekommen, Christopher verhaftet und aufgrund von Lysanders Bestechungen als mehrfacher Mörder verurteilt worden; in Wahrheit waren die Mädchen, deren Tod man ihm zur Last legte, Lysander und seinem Meister Morgantus zum Opfer gefallen.
Beim Kampf in den Katakomben war Gillian schwer verletzt und sein vermeintlicher Leichnam zurückgelassen worden. Er aber hatte sich mit letzter Kraft retten können, war von Verbündeten gesund gepflegt worden und hatte sich schließlich auf den Weg nach Venedig zum Templum Novum gemacht.
Erst Jahre später erfuhr er, dass sich Lysander und Morgantus aus allen Unterweltgeschäften zurückgezogen hatten. Ihr Schattenreich aus Erpressung, Schmuggel, Schutzgeld und Raub wurde unter den übrigen Bossen der Stadt aufgeteilt, und auch heute noch schien sich niemand, der Lysanders Verbrecherregime miterlebt hatte, ohne Schaudern daran zurückzuerinnern.
Erst 1904 war es Aura gelungen, Christopher aus dem Gefängnis zu befreien und gemeinsam mit ihm Lysander und Sylvette in Swanetien aufzuspüren, einem gottvergessenen Landstrich hoch oben in den Bergen des Kaukasus. Christopher
war dort getötet worden, aber Aura hatte sich überzeugen lassen, dass allein Morgantus die Verantwortung für jene Gräueltaten trug, die all die Jahre über in Lysanders Namen in Wien und anderswo begangen worden waren. Und während Gillian Morgantus auf Schloss Institoris besiegte, hatten Aura und Sylvette den Rückweg nach Hause angetreten. Den schwerkranken Lysander hatten sie in Swanetien zurückgelassen, in der Gewissheit, dass er bald sterben würde. Eine Swanin hatte angeboten, ihn während dieser letzten Monate bei sich aufzunehmen und zugleich für Christophers Grab zu sorgen.
Das war das Letzte, was sie von Lysander gehört hatten. Und während der zwanzig Jahre, die seither vergangen waren, hatte Gillian stets geglaubt, dass der alte Alchimist tatsächlich irgendwo in den Bergen Swanetiens seine letzte Ruhe gefunden hatte.
Heute aber fragte er sich, ob sie nicht alle viel zu naiv gewesen waren. Gewiss,
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