Die Alchimistin 03 - Die Gebannte
hatte Sophia sie überhaupt dorthin
mitgenommen, wenn es keine Verbindung gab zwischen Auras Suche nach Gillians Entführern und der absonderlichen Familie in den verwitterten Sälen dieses Gemäuers? Konnte es Zufall sein, dass Severin Octavian ein Uhrmacher war? Hatte die Standuhr im Schloss mit ihrem Vogelkonzert all das ausgelöst oder stand sie nur zufällig am Beginn der Ereignisse?
Statt einem klaren Plan folgte Aura bislang nur Irrwegen durch dieses Labyrinth aus Halbwissen, Vermutungen, Befürchtungen und reiner Phantasie. Alles mochte zusammenhängen – und nichts. Jede Abzweigung konnte zurück zu einem bekannten Pfad führen – oder ins Nirgendwo.
Morgen würde sie versuchen, mehr über die Octavians herauszufinden. Zudem wollte sie Gian anrufen und ihn überprüfen lassen, ob es einen Zusammenhang zwischen der Octavian-Sippe und den Finanziers des Sanatoriums Saint Ange gab. Des Weiteren musste sie in Erfahrung bringen, wie es Gillian ging. Erholte er sich allmählich von Tollerans Tortur?
Immer wieder tauchten die Lichter des Hradschin zwischen den Giebeln der hohen Häuser auf. Hier und da blickte Aura in erleuchtete Parterrefenster. Meist waren die Vorhänge geschlossen, aber manchmal erkannte sie Umrisse von Menschen, die aus der Helligkeit heraus ins Dunkel blickten.
Sophia hatte ihr den Weg beschrieben – vorbei an diesem Krämerladen und jenem Trödler, beim Antiquar die Straßenseite wechseln und nach links abbiegen, dann nach rechts und die zweite links (oder war es wieder rechts?). Dort aber traf Aura auf breite Stufen. Das musste die Schlossstiege sein, die lange Treppe vom Hradschin hinab zum Kleinseitner Ring. Warum sie sich mit einem Mal höher am Berghang befand als das Palais Octavian war ihr ein Rätsel.
Auf dem Weg nach unten hatte sie noch immer zahllose Stufen vor sich, als sie das Wispern hörte.
»Ich«, zischte es im Dunkel. »Ich ... ich ...«
Sie blieb stehen. Links von ihr erhob sich eine efeubewachsene Wand. Rechter Hand befanden sich jenseits des gemauerten Geländers die roten Ziegeldächer tiefer gelegener Häuser, dazwischen klafften die Schächte enger Hinterhöfe. Und vor ihr führte die Treppe weiter nach unten, in breiten, gemächlichen Stufen, auf die das Licht einsamer Laternen fiel.
»Ich ...«, fauchte die Stimme.
»Wer ist da?«
Etwa zehn Meter vor ihr trat eine kleine Gestalt aus den Schatten der Efeuranken.
»Ich ...«, erklang es im Flüsterton, heiser und rasselnd. »Ich ... ich ...«
Die Gestalt humpelte von der linken Seite der Treppe zur Mitte hinüber, dabei zog sie einen Fuß nach. Ehe sie in den Schein einer nahen Laterne treten konnte, blieb sie stehen, drehte sich um und blickte die Stufen herauf.
Aura erkannte nur eine Silhouette, klein, die eine Schulter tiefer als die andere. In der rechten Hand hielt das Kind eine Puppe mit baumelndem Kopf.
»Ich ... ich ... ich ...«
Aura nahm an, dass es sich nicht um das deutsche Wort handelte, sondern nur um einen Laut, ein Zischen wie von einer exotischen Echse.
Langsam setzte sie sich wieder in Bewegung.
Weit und breit war kein anderer Mensch zu sehen. In der Ferne hörte sie ein Automobil durch die Straßen knattern. Gleich darauf breitete sich wieder Stille über das Viertel.
»Ich ... ich ...«
Die Stimme gab keinen Aufschluss über das Geschlecht des Kindes, wohl aber das helle Kleid mit den Pluderärmeln. An dem gesunden Bein trug es eine weiße Sandale und einen verrutschten Kniestrumpf, das lahme schien nackt zu sein.
»Bist du mir gefolgt?«, fragte Aura.
Die einzige Antwort blieb das heisere Zischeln.
Mit einem Mal ertönten Geräusche, weiter unten auf der Schlossstiege. Das Kind drehte sich um und schlurfte zurück zur Efeumauer.
»Warte«, sagte Aura.
Aber die schmale Gestalt tauchte schon wieder in die Schatten. Als Aura dort ankam, schlug eine niedrige Tür vor ihr zu. Ein Riegel wurde vorgeschoben.
»Ich ...«, erklang es noch einmal hinter dem Holz.
Sie drückte hart gegen die Tür, aber der Riegel hielt stand. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, es mit Gewalt zu versuchen, aber da näherten sich Schritte auf dem tiefer gelegenen Teil der Treppe.
Zwei Frauen erklommen die Stiege, Aura konnte jetzt ihre Stimmen hören. Ihre Mäntel reichten bis zum Boden, auf ihren Köpfen saßen Hüte mit extravaganten Gestecken.
»Sie ist es«, rief die eine aus.
»Natürlich ist sie’s«, sagte die andere.
Hinter der Holztür in der Mauer herrschte Stille. Aura
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