Die Alptraum-Frau
atmete er scharf durch die Nase. Calderon atmete noch immer. Er ärgerte sich selbst darüber. Er hätte schon längst abdrücken können. Schließlich berührte sein Finger den Abzug.
Warum schieße ich denn nicht? dachte er. Ich habe mir alles überlegt.
Es ist doch so einfach. In der Theorie. Ich habe es mir immer ausgemalt, und jetzt brauche ich nur abzudrücken.
Er wollte es tun. Einfach so.
Er schloss die Augen. Eine letzte Konzentration noch, die allerletzte in seinem verdammten Leben. Den rechten Zeigefinger zurückbewegen.
Der Knall würde folgen und was dann?
Da klopfte es!
Wie erwähnt, Calderons Sinne waren geschärft in diesem letzten Moment seines Lebens. Er hatte sich dieses Klopfen auch nicht eingebildet. Es war da gewesen. Ein hartes Pochen gegen die Bürotür, kein imaginäres Geräusch in seinem Kopf.
Ross Calderon saß auf seinem Stuhl wie eine Steinfigur. Der Finger lag noch immer am Abzug. Ein leichtes Zucken nur würde ausreichen, um die Kugel in seinen Kopf fahren zu lassen. Das tat er nicht. Er saß auf seinem Platz und war wie eingefroren.
Calderon lebte noch. Überdeutlich spürte er dieses Dasein. In seinem Kopf klopfte es, als wäre jemand dabei, ihm eine Botschaft zu übermitteln. Das Blut war hineingestiegen. Es erzeugte einen starken, hämmernden Druck, schon mit leichten Schmerzen verbunden.
Erneut klopfte es…
Wieder blieb Ross Calderon bewegungslos sitzen. Auch jetzt zuckte sein rechter Zeigefinger nicht und blieb in dieser erstarrten Haltung.
Aber er kehrte wieder zurück ins Leben. Sein Gehirn begann zu arbeiten. Er fing an zu denken.
Das Haus war um diese Zeit leer. Der Nachtwächter hatte seine Runde hinter sich. Er würde erst wieder gegen ein Uhr morgens kommen. Es gab auch keine Reinmachefrauen, die sich um diese Zeit noch in den Büros herumtrieben. Auch keine Mitarbeiter, da hatte sich Calderon schon umgeschaut. Durch den Schuss sollte niemand aufgeschreckt werden. Er hatte die Tat völlig allein vollbringen wollen.
Wer also hatte geklopft?
Eine makabre Idee fuhr ihm durch den Kopf. Vielleicht war es der Tod gewesen, der mit seinen Knochenfingern gegen das Holz der Tür gehämmert hatte.
Ross Calderon merkte, dass dieses zweimalige Klopfen nicht ohne Wirkung auf ihn geblieben war. Er tat etwas, was er nie vorgehabt hatte.
Zumindest nicht in den letzten Minuten. Er zog die Waffe wieder zurück.
Sehr langsam. In der gleichen Geschwindigkeit, mit der er sie in den Mund geschoben hatte. Der Lauf glitt dabei über seine Unterlippe hinweg. Es war alles okay, so natürlich. Klebriger Speichel zog noch einen Faden hinter sich her, dann hatte auch das Loch der Mündung den Mund endlich verlassen.
Ross Calderon hustete. In seiner Kehle spürte er ein Kratzen. Er starrte über den Schreibtisch hinweg. Sein Blick fiel genau auf die dunkle Bürotür, an der es geklopft hatte. Wer war es?
Ein drittes Klopfen erklang nicht. Auch wenn Calderon keine Antwort gegeben hatte, so nahm sich der Ankömmling das Recht, die Tür einfach zu öffnen.
Sie schwang lautlos auf und schabte auch nicht über den beigefarbenen Teppich hinweg. Hinter der Tür lag das Vorzimmer, in dem tagsüber die beiden Sekretärinnen saßen. Dort brannte kein Licht mehr. Die einzige Beleuchtung bestand aus der Schreibtischlampe, die ihre Helligkeit verteilte.
Noch war die Person nicht zu sehen, weil sie sich im anderen Raum aufhielt. Ein Schattenriss malte sich ab. Er bewegte sich. Der Ankömmling kam näher. Er erreichte die Schwelle, ging darüber hinweg und betrat Ross Calderons Büro.
Schlagartig sank die Hand mit der Waffe nach unten und blieb auf dem Oberschenkel liegen. Calderons Mund blieb offen. Diesmal allerdings vor Staunen, denn der nächtliche Gast war eine Frau…
Und was für eine!
Ross Calderon musste schlucken, als er sie sah. Sie trug ein helles Kleid, das bis über die Waden hinweg reichte. Am Rücken war eine Kapuze eingearbeitet, deren Stoff locker auf die Schulter fiel. Die Knöpfe waren nicht alle geschlossen, und so verschob sich der Stoff bei jeder Bewegung und gab einiges an Haut frei.
Die Frau war für ihn wie ein Abschiedsgeschenk oder ein neuer Anfang. Er wusste es selbst nicht und war zudem unfähig, sich darüber normale Gedanken zu machen.
Ein schmales, hübsches Gesicht. Ein runder Mund mit perfekt geformten Lippen. Große, beinahe staunende Augen, eine kleine Nase und eine Haarflut, die sich wild und lockig auf dem Kopf verteilte. Die Farbe sah manchmal aus wie
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