Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
aber, dass ihr Mann vielleicht doch mal etwas gelernt haben könnte, und fragte ihn hoffnungsvoll, ob er nun fertig gejagt habe.
Nein. Hatte er nicht.
Die dritte große Anstrengung, bevor alles quasi ins Gegenteil umschlug, bestand darin, dass er an die französische Riviera reiste, nach Nizza, wo der achtundachtzigjährige Gustaf V . immer den Spätherbst zubrachte, um seinen chronischen Luftröhrenkatarrh zu lindern. Der König hatte in einem Interview erzählt, dass er tagsüber gern auf der Terrasse seiner Suite im Hôtel d’Angleterre saß, wenn er nicht gerade seinen täglichen gemächlichen Spaziergang auf der Promenade des Anglais unternahm.
Diese Information reichte Ingmar. Er würde hinfahren, den König bei seinem Spaziergang treffen, vortreten und sich vorstellen.
Wie sich die Situation dann weiterentwickeln würde, war völlig offen. Vielleicht würden die beiden stehen bleiben und ein Weilchen plaudern, und wenn die Stimmung gut war, konnte Ingmar den König ja für den Abend auf einen Drink ins Hotel einladen. Und vielleicht sogar zu einer Partie Tennis am nächsten Tag?
»Diesmal kann nichts schiefgehen«, sagte Ingmar zu Henrietta.
»Ja dann«, meinte seine Frau. »Hast du meine Zigaretten gesehen?«
Ingmar durchquerte Europa per Anhalter. Es dauerte eine ganze Woche, aber als er in Nizza angekommen war, musste er nur zwei Stunden auf einer Bank an der Promenade des Anglais sitzen, als er auch schon den großen, stattlichen Gentleman mit silbernem Gehstock und Monokel erblickte. Mein Gott, war das ein feiner Mann! Er näherte sich langsam. Und er war allein.
Was dann geschah, konnte Henrietta noch Jahre später detailliert wiedergeben, denn Ingmar erzählte es ihr für den Rest ihres Lebens immer und immer wieder.
Ingmar war von seiner Bank aufgestanden, war zu Seiner Majestät gegangen, hatte sich als treuer Untertan in der Königlich Schwedischen Post vorgestellt und die Möglichkeit angedeutet, man könne doch zusammen einen Drink nehmen oder eine Partie Tennis spielen – um damit zu schließen, einen Handschlag unter Männern vorzuschlagen.
Die Reaktion des Königs fiel jedoch völlig anders aus, als Ingmar erwartet hatte. Erstens weigerte er sich, dem Unbekannten die Hand zu geben. Zweitens würdigte er ihn keines Blickes. Stattdessen schaute er haarscharf an Ingmar vorbei in die Ferne, wie er es schon auf den Zehntausenden von Briefmarken getan hatte, die Ingmar im Dienst in der Hand gehabt hatte. Und dann verkündete er, dass er keinesfalls gedenke, sich mit irgendeinem Laufburschen von der Post abzugeben.
Eigentlich war der König ja zu majestätisch, um zu sagen, was er von seinen Untertanen hielt. Von Kindesbeinen an hatte man ihn in der Kunst gedrillt, seinem Volk den Respekt zu erweisen, den das Volk im Allgemeinen natürlich überhaupt nicht verdiente. Doch zum einen war es ganz schön anstrengend gewesen, das ein Leben lang durchzuhalten, zum anderen tat ihm mittlerweile alles weh.
»Aber Eure Majestät, Ihr versteht nicht …«, nahm Ingmar noch einen Anlauf.
»Wenn ich nicht allein wäre, hätte ich meine Begleitung gebeten, diesem Flegel hier klarzumachen, dass ich sehr wohl verstanden habe«, sagte der König und vermied es auf diese Weise sogar noch, den unglücklichen Untertan direkt anzusprechen.
»Aber …« Doch weiter kam Ingmar nicht, denn der König schlug ihm mit seinem silbernen Stock auf die Stirn und rief: »Da!«
Ingmar fiel auf den Hintern und gab Seiner Majestät auch noch den Weg frei. Und während sein Untertan immer noch auf dem Boden saß, spazierte der König davon.
Ingmar war zerschmettert.
Ganze fünfundzwanzig Sekunden lang.
Dann stand er langsam auf und schaute seinem König nach. Und schaute und schaute.
» Laufbursche ? Flegel ? Dir geb ich Laufbursche und Flegel.«
Und damit schlug quasi alles ins Gegenteil um.
3. KAPITEL
Von einer strengen Strafe, einem missverstandenen Land und drei vielseitigen Mädchen aus China
Engelbrecht van der Westhuizens Anwalt zufolge war die junge Schwarze urplötzlich auf die Straße hinausgetreten, so dass seinem Mandanten gar nichts anderes übrig blieb, als auszuweichen. Und daher sei eben das Mädchen an dem Unfall schuld, nicht der Autofahrer. Ingenieur Westhuizen war ein Opfer, ganz eindeutig. Außerdem hatte sie ja einen Gehsteig benutzt, der Weißen vorbehalten war.
Der Pflichtverteidiger des Mädchens blieb seine Einlassung schuldig, denn er hatte vergessen, zur Hauptverhandlung aufzutauchen.
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