Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
ausdrücken konnte. Und die unter Eid abgegebene Aussage des Ingenieurs anzweifelte. Sie hatte außerdem den Umfang der Strafe ausgerechnet, bevor irgendjemand anders im Saal auch nur annähernd dasselbe hätte tun können. Er hätte das Mädchen rügen müssen, aber … er war zu neugierig, ob sie wirklich richtig gerechnet hatte. Deswegen wandte er sich an den Gerichtsassistenten, der nach ein paar Minuten bekräftigte: »Ja, es könnte sich – wie gesagt – um sieben Jahre, drei Monate und … ja, vielleicht zwanzig Tage oder so handeln.«
Engelbrecht van der Westhuizen nahm einen Schluck aus seiner kleinen braunen Hustensaftflasche, die er immer dabeihatte, wenn er sich in Situationen befand, in denen man nicht einfach so einen Kognak kippen konnte. Den Schluck erklärte er damit, dass der Schock über diesen schrecklichen Unfall sein Asthma verschlimmert haben müsse.
Doch die Medizin tat ihm gut:
»Ich würde sagen, dann runden wir nach unten ab«, schlug er vor. »Genau sieben Jahre reichen auch. Die Karosserie kann man ja wieder ausbeulen lassen.«
Nombeko kam zu dem Schluss, dass ein paar Wochen oder so bei diesem Westhuizen immer noch besser waren als dreißig Jahre in einer Anstalt. Natürlich war es schade, dass die Bibliothek jetzt warten musste, aber bis dahin war es ja auch noch ein ordentliches Stück zu laufen, und so was nahm man doch eher ungern mit einem gebrochenen Bein in Angriff. Abgesehen von allem anderen. Inklusive der Blasen, die sie sich auf den ersten sechsundzwanzig Kilometern schon gelaufen hatte.
Eine kleine Pause konnte also nicht schaden, vorausgesetzt, dass der Herr Ingenieur sie nicht noch einmal über den Haufen fuhr.
»Danke, das ist sehr großzügig von Ihnen, Ingenieur van der Westhuizen«, sagte sie und bestätigte damit das Urteil des Richters.
»Ingenieur van der Westhuizen« musste reichen. Sie hatte ganz bestimmt nicht vor, ihn auch noch »baas« zu nennen.
* * * *
Direkt nach der Verhandlung landete Nombeko auf dem Beifahrersitz neben Ingenieur van der Westhuizen, der mit einer Hand das Auto Richtung Norden lenkte und mit der anderen die Flasche Klipdrift-Kognak zum Munde führte. Der Kognak war in Geruch und Farbe identisch mit dem Hustensaft, den Nombeko ihn während der Verhandlung hatte kippen sehen. All das geschah am 16. Juni 1976.
Am selben Tag regte sich eine Menge Schüler in Soweto über die neueste Idee der Regierung auf, dass der bereits unzulängliche Unterricht in Zukunft auch noch auf Afrikaans abgehalten werden sollte. Daher gingen die Jugendlichen auf die Straße und verliehen ihrem Missfallen Ausdruck. Sie fanden, dass es doch wesentlich leichter war, etwas zu lernen, wenn man verstand, was der Lehrer sagte. Und dass ein Text gleich viel verständlicher für den Leser wird, wenn er die Sprache versteht, in der der Text abgefasst ist. Und deswegen – so die Schüler – sollte der Unterricht auch künftig auf Englisch abgehalten werden.
Die Polizei vor Ort lauschte mit Interesse den Ausführungen der Jugendlichen und argumentierte dann für die Sache der Regierung, auf eine Weise, die typisch für die südafrikanische Ordnungsmacht war:
Sie eröffnete das Feuer.
Direkt auf den Demonstrationszug.
Dreiundzwanzig Demonstranten starben mehr oder weniger sofort. Am nächsten Tag hob die Polizei den Austausch der Argumente auf ein ganz neues Niveau, indem sie Helikopter und Panzer mitbrachte. Noch bevor der Rauch verflogen war, waren mehrere hundert Menschenleben ausgelöscht. Das Schulamt von Johannesburg konnte daraufhin den Budgetplan für Soweto revidieren, alldieweil die Schülerzahlen plötzlich stark zurückgegangen waren.
All das musste Nombeko nicht miterleben. Sie war ja vom Staat versklavt worden und nun unterwegs zum Haus ihres neuen Herrn.
»Ist es noch weit, Herr Ingenieur?«, fragte sie, vor allem, um überhaupt etwas zu sagen.
»Nein, nicht besonders«, sagte Ingenieur van der Westhuizen. »Aber du sollst nicht ungefragt den Mund aufmachen. Es reicht völlig, zu antworten, wenn ich dich anspreche.«
Ingenieur van der Westhuizen war so einiges. Dass er ein Lügner war, hatte Nombeko schon im Gerichtssaal gemerkt. Dass er alkoholisiert war, wurde ihr klar, als sie mit ihm im Auto von dort wegfuhr. Außerdem war er in seinem Beruf einfach ein Blender. Er beherrschte sein Metier nicht im Geringsten, hielt sich aber oben auf der Karriereleiter, indem er log, dass sich die Balken bogen, und die Leute ausnützte, die wirklich
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