Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Jungen sein ganzes Leben lang verheimlichen? Vor der Schule? Vor den Nachbarn? Vor der Welt?
So ungefähr, nickte Ingmar. Im Namen der Republik.
Mit der Schule musste man sowieso vorsichtig sein, von zu vielen Büchern konnte man nämlich auch blöd werden. Er selbst war ja auch Buchhalter geworden, ohne allzu viel gelesen zu haben.
»Buchhaltungsassistent«, korrigierte Henrietta, woraufhin sie zu hören bekam, dass sie nun schon wieder jedes Wort auf die Goldwaage legte.
Worüber hatte sie sich noch gleich Sorgen gemacht? Was die Nachbarn und die Welt sagen würden? Aber bitte. Nennenswerte Nachbarn hatten sie ja gar nicht hier draußen im Wald. Außer Johan auf dem Hügel, aber was machte der schon groß, außer Elche wildern? Ohne was abzugeben. Und die Welt im Allgemeinen war doch nichts, was man sonderlich respektieren müsste, oder? Überall bloß Monarchien und Dynastien.
»Und was ist mit dir?«, fragte Henrietta. »Willst du deine Arbeit in der Post kündigen, damit du die ganze Zeit mit einem der Jungen zu Hause sein kannst? Hattest du dir das etwa so vorgestellt, dass ich ganz alleine jede einzelne Krone für diese Familie verdienen soll?«
Ingmar fand es schade, dass Henrietta so engstirnig war. Natürlich musste er bei der Post aufhören, er konnte ja schlecht zwei Vollzeitjobs haben. Aber er würde schon seine Verantwortung für die Familie übernehmen. Zum Beispiel wollte er ihr gerne in der Küche helfen. Schließlich war es jetzt nicht mehr wichtig, seine Hoden kühl zu halten.
Henrietta antwortete, der einzige Grund, warum Ingmar überhaupt in die Küche fand, seien ihre beengten Wohnverhältnisse. Sie würde es schon schaffen, ihren Schneiderinnenjob, das Kochen und das Windelwechseln unter einen Hut zu bekommen, solange Ingmar und seine Hoden ihrem Herd fernblieben.
Und dann lächelte sie trotz allem. Dass ihr Mann voller Leben war, war noch untertrieben.
Ingmar kündigte schon am nächsten Tag. Er durfte noch am selben Tag gehen, bekam volle drei Monatslöhne und löste an diesem Abend ein spontanes Freudenfest bei den sonst so stillen, grauen Männern und Frauen in der Postbuchhaltung aus.
Man schrieb das Jahr 1961. Dasselbe Jahr, in dem ein außergewöhnlich kluges Mädchen in einer Hütte in Soweto geboren wurde, eine halbe Ewigkeit entfernt.
* * * *
In den ersten Lebensjahren von Holger und Holger verbrachte Ingmar seine Tage damit, abwechselnd seiner Frau im Weg zu stehen und hinauszuziehen, um Lausbubenstreiche verschiedenster republikanischer Qualität zu spielen.
Auch wurde er Mitglied des republikanischen Klubs unter der moralischen Leitung des großen Vilhelm Moberg. Die Schriftstellerlegende Moberg war wütend auf alle verräterischen Sozialisten und Liberalen, die sich die Republik zwar ins Parteiprogramm geschrieben hatten, aber nichts für ihre Verwirklichung taten.
Doch da Ingmar nicht aufdringlich erscheinen wollte, wartete er bis zum zweiten Treffen des Klubs, bevor er vorschlug, dass er selbst ja die ansehnliche Kasse des Klubs verwalten könnte, und zwar zu dem Zweck, den Kronprinzen zu kidnappen und zu verstecken, um damit den ständigen Nachschub an Thronfolgern abzuschneiden.
Nach ein paar Sekunden verblüfften Schweigens am republikanischen Tisch geleitete Moberg höchstpersönlich Ingmar zur Tür und gab ihm zum Abschied einem wohlgezielten Tritt in den Hintern.
Mobergs rechter Fuß plus der folgende Sturz die Treppe hinunter hatten ihm wehgetan, aber ansonsten war eigentlich nichts Schlimmes passiert, dachte Ingmar, während er davonhinkte. Ihren republikanischen Klub, in dem sie sich sowieso nur gegenseitig beweihräucherten, konnten sie sich an den Hut stecken. Ingmar hatte andere Ideen.
Zum Beispiel schloss er sich der rückgratlosen Sozialistischen Partei an. Die Sozialdemokraten waren in Schweden an der Macht, seit Per Albin Hansson die Nation mithilfe von Horoskopen durch die Schrecken des Zweiten Weltkriegs gelenkt hatte. Hansson selbst hatte vor dem Krieg Karriere gemacht, indem er sich in erster Linie die Republik auf die Fahnen schrieb, doch als der alte Abstinenzler auf einem Posten war, auf dem er dahingehend etwas hätte bewegen können, votierte er doch lieber für Poker und Schnaps mit den Jungs, statt seiner Überzeugung zu folgen. Das war besonders traurig, weil Hansson nachweislich ein wirklich geschickter Mann war, sonst hätte er es wohl kaum geschafft, jahrelang Ehefrau und Geliebte bei Laune zu halten, und das mit zwei Kindern pro
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