Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Des Weiteren wolle er zwar die südafrikanischen Traditionen nicht verachten, nichts liege ihm ferner, aber die chinesischen welchen verlangten, dass Menschen, die mit am Tisch saßen, auch Essen vorgesetzt bekamen. Der Chinese meinte, ihm sei nicht wohl dabei, dass die großartige Dolmetscherin nichts zu essen bekäme, und fragte, ob der Herr Präsident wohl gestatte, dass er ihr etwas von seinem Essen abgab.
Präsident Botha schnipste mit den Fingern und bestellte noch eine Portion für die Eingeborene. War ja nicht so schlimm, wenn sie etwas in den Magen bekam, wenn es den Gast denn glücklich machte. Außerdem schien sich das Gespräch ja bestens zu entwickeln, der Chinese sah schon ganz zahm aus.
Als das Abendessen vorüber war, war Folgendes geschehen:
1. China wusste, dass Südafrika eine Atommacht war.
2. Nombeko hatte mit dem Generalsekretär der chinesischen Guizhou-Provinz einen Freund fürs Leben gewonnen.
3. Ingenieur van der Westhuizen hatte wieder mal eine Krise überstanden, weil
4. P. W. Botha in groben Zügen mit der Entwicklung zufrieden war, denn er durchblickte die Lage eben nicht.
Und last, but not least:
5. Die fünfundzwanzigjährige Nombeko Mayeki war immer noch in Pelindaba gefangen, hatte sich aber zum ersten Mal im Leben so richtig satt essen können.
6. KAPITEL
Von Holger und Holger und einem gebrochenen Herzen
Es hatte schon immer zu Ingmars Plan gehört, dass Holger von Geburt an im republikanischen Geist erzogen werden sollte. An die eine Wand des Kinderzimmers hängte er nebeneinander zwei lebensgroße Porträts von Charles de Gaulle und Franklin D. Roosevelt, ohne darüber nachzudenken, dass die beiden sich nicht hatten leiden können. An die andere Wand kam Finnlands Urho Kekkonen. Diese drei Herren verdienten ihren Ehrenplatz, alldieweil sie vom Volke gewählt waren. Sie waren Präsidenten.
Ingmar schauderte bei der grässlichen Vorstellung, dass jemand qua Geburt dazu bestimmt sein sollte, Repräsentant und Oberhaupt einer ganzen Nation zu werden, ganz abgesehen von der persönlichen Tragödie, vom ersten Tag seines Lebens an in vorgefertigte Wertvorstellungen gepresst zu werden, ohne sich wehren zu können. So was sollte als Kindesmisshandlung geahndet werden, dachte er sich und hängte zur Sicherheit auch noch den ehemaligen argentinischen Präsidenten Juan Perón an die Wand im Kinderzimmer des noch ungeborenen Holger.
Ingmar mit seiner Ungeduld war es ein Dorn im Auge, dass Holger gesetzlich zum Schulbesuch verpflichtet war. Natürlich musste der Junge Lesen und Schreiben lernen, aber abgesehen davon trichterten sie den Kindern ja auch noch Religion, Erdkunde und anderen Unfug ein, Dinge, die nur auf Kosten der einzig wahren Ausbildung gingen, der wichtigen Ausbildung zu Hause, die sich darum drehte, dass der König, eventuell auch auf demokratischem Wege, abgesetzt und durch einen vom Volk gewählten Repräsentanten ersetzt werden musste.
» Eventuell auch auf demokratischem Wege?«, fragte Henrietta.
»Nun wollen wir doch nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen, meine Liebe«, antwortete Ingmar.
Zu Anfang gab es ein logistisches Problem, als Holger nämlich nicht nur einmal, sondern zweimal innerhalb weniger Minuten zur Welt kam. Aber wie schon so oft gelang es Ingmar, eine Widrigkeit des Schicksals ins Gegenteil zu verkehren. Er hatte eine Idee, die so revolutionär war, dass er sie vierzig Sekunden lang abwägen und den Beschluss dann seiner Frau mitteilen musste.
Er hatte sich nämlich ausgerechnet, dass Holger und Holger sich den Schulbesuch ja teilen konnten. Da es eine Hausgeburt gewesen war, musste man einfach nur den einen melden, egal, welchen, und den anderen verheimlichen. In diesem Zusammenhang war es durchaus ein glücklicher Zufall zu nennen, dass Ingmar vor Aufregung die Telefonbuchse aus der Wand gerissen hatte, so dass die Hebamme, die sonst die einzige Zeugin gewesen wäre, gar nicht hinzugerufen werden konnte.
Ingmar hatte nun den Einfall, dass Holger 1 am Montag in die Schule gehen könnte, während Holger 2 zu Hause blieb, um von seinem Vater in Republiklehre gedrillt zu werden. Am Dienstag tauschten die Jungen den Platz, und so sollte es immer weitergehen. Als Resultat stellte sich Ingmar vor, dass seine Söhne einigermaßen ausreichende Kenntnisse in den schulischen Fächern erwarben, dazu aber auch ausreichende Mengen von wirklich wichtigem Wissen.
Henrietta hoffte, sich verhört zu haben. Meinte Ingmar etwa, sie sollten den einen
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