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Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)

Titel: Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Jonasson
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bekommen hatte.
    In der Schule wunderte sich der Lehrer, dass das, was Holger am Montag gelernt hatte, schon tags darauf wieder vergessen war, und dass die am Dienstag erworbenen Kenntnisse einen Tag später verloren, dafür aber diejenigen vom Montag wieder da waren.
    Nun, im Großen und Ganzen kam der Junge ja zurecht und schien trotz seiner jungen Jahre politisch sehr interessiert, also musste man sich wohl keine allzu großen Sorgen machen.
    In den nächsten Jahren lief der generelle Wahnsinn insofern auf Sparflamme, als Ingmar das größere Gewicht auf den häuslichen Unterricht legte, statt draußen rumzurennen und Unfug zu treiben. Wenn doch, nahm er jedes Mal die Kinder mit. Vor allem der eine brauchte besondere Aufsicht, denn bei dem Knaben, den man von Anfang an Holger 2 genannt hatte, zeigten sich deutliche Anzeichen, dass er im Glauben nicht ganz fest war. Ganz anders als beim ersten.
    Der Zufall hatte es so gewollt, dass Holger 1 beim Einwohnermeldeamt gemeldet wurde. Somit hatte er zum Beispiel einen eigenen Ausweis, während Nummer zwei in legaler Hinsicht überhaupt nicht existierte. Er war quasi in Reserve. Das Einzige, was Nummer zwei im Unterschied zu Nummer eins besaß, war ganz offensichtlich ein helles Köpfchen. Da er sich mit dem Lernen so leichttat, ging auch immer Holger 2 in die Schule, wenn Prüfungen anstanden, egal, wer laut Plan an der Reihe war. Außer einmal, als Nummer zwei Fieber hatte. Da nahm ihn ein paar Tage später sein Erdkundelehrer beiseite und bat ihn zu erklären, wie er darauf verfallen war, die Pyrenäen in Norwegen anzusiedeln.
    Henrietta sah, dass Nummer zwei ziemlich unglücklich war, und wurde dadurch selbst noch unglücklicher. War es möglich, dass ihr geliebter Dussel tatsächlich keine Grenzen kannte?
    »Natürlich habe ich Grenzen, liebe Henrietta«, sagte Ingmar. »Über genau dieses Thema habe ich ein bisschen nachgedacht. Ich bin mittlerweile gar nicht mehr so sicher, dass man die ganze Nation auf einen Schlag erobern kann.«
    »Nicht die ganze Nation?«, sagte Henrietta.
    »Auf einen Schlag«, sagte Ingmar.
    Schweden war ja exemplarisch langgezogen von der Form her. Ingmar hatte sich schon lange mit dem Gedanken getragen, das Land Stück für Stück zu bekehren, ganz unten im Süden anzufangen und sich dann allmählich nach oben vorzuarbeiten. Natürlich ginge es auch andersrum, aber da oben im Norden war es so verdammt kalt. Wer konnte schon bei vierzig Grad unter Null die Staatsform verändern?
    Noch schlimmer war es für Henrietta, dass Nummer eins überhaupt keine Zweifel zu haben schien. Seine Augen leuchteten nur. Je wilder Ingmar sich ausdrückte, umso mehr leuchteten sie. Sie beschloss, kein Jota mehr von diesem ganzen Wahnsinn zu akzeptieren, weil sie sonst selbst wahnsinnig werden würde.
    »Jetzt bleibst du zu Hause, sonst schmeiß ich dich raus!«, sagte sie zu Ingmar.
    Ingmar liebte seine Henrietta und respektierte ihr Ultimatum. Der Schulbesuch im Zwei-Tages-Wechsel wurde zwar so fortgesetzt, ebenso die niemals erlöschenden Bezugnahmen auf verschiedenste Präsidenten von damals und heute. Der Wahnsinn war eben nicht auszurotten und quälte Henrietta weiter. Doch Ingmars diverse Ausflüge unterblieben ganz, bis die Kinder sich dem Abitur näherten.
    Da erlitt er einen Rückfall und zog wieder los, um vor dem Stockholmer Schloss zu demonstrieren, in dessen Mauern gerade ein Kronprinz zur Welt gekommen war.
    Damit war es genug. Henrietta rief Holger und Holger zu sich und bat sie, sich mit ihr in die Küche zu setzen.
    »Ich werde euch jetzt alles erzählen, meine geliebten Kinder«, begann sie.
    Und dann erzählte sie.
    Ihre Erzählung dauerte zwanzig Zigarettenlängen. Von ihrer allerersten Begegnung mit Ingmar 1943 im Gericht von Södertälje bis in die Gegenwart.
    Sie vermied es, Ingmars Lebensführung zu beurteilen, und beschrieb einfach nur, was bis zu diesem Tag alles passiert war. Auch, wie er die Neugeborenen vertauscht hatte, so dass er am Ende gar nicht mehr sagen konnte, wer als erstes gekommen war.
    »Es ist möglich, dass du Nummer zwei bist, Nummer eins, aber das weiß ich nicht. Keiner weiß das«, sagte Henrietta.
    Sie fand die ganze Geschichte selbsterklärend und erwartete, dass ihre Söhne schon die richtigen Schlüsse ziehen würden, wenn sie fertig war.
    Damit hatte sie genau zur Hälfte recht.
    Die beiden Holgers lauschten. Für den einen hörte es sich an wie eine Heldensage, die Beschreibung eines von Pathos beseelten

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