Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Mannes, der unermüdlich gegen ständigen Gegenwind ankämpfte. Für den anderen hörte es sich eher nach der Chronik eines angekündigten Todes an.
»Das war alles, was ich zu sagen hatte«, schloss Henrietta. »Für mich war es wichtig, das einmal loszuwerden. Denkt darüber nach, was ich euch gesagt habe, und darüber, wo ihr eigentlich im Leben hinwollt – und dann können wir uns ja vielleicht morgen beim Frühstück noch mal darüber unterhalten, ja?«
Henrietta betete in dieser Nacht zu Gott, auch wenn sie die Tochter eines lokalen Kommunistenführers war. Sie betete, dass ihre beiden Söhne ihr und ebenso Ingmar vergeben konnten. Sie betete, dass die Kinder es verstehen würden, dass man die Dinge noch in Ordnung bringen konnte, dass nun ein normales Leben beginnen konnte. Sie betete um Gottes Hilfe bei der Aufgabe, zu den Behörden zu gehen und die Staatsbürgerschaft für einen fast achtzehnjährigen neugeborenen Mann zu beantragen. Sie betete darum, dass alles gut wurde.
»Bitte, bitte, lieber Gott«, sagte Henrietta.
Und schlief ein.
Am nächsten Morgen war Ingmar immer noch weg. Henrietta rührte müde in der Grütze für sich und die Kinder. Sie war erst neunundfünfzig, wirkte aber älter.
Es war schwer für sie. In jeder Hinsicht. Sie machte sich um alles Sorgen, aber jetzt hatten die Kinder immerhin ihre Version der Geschichte gehört. Blieb nur abzuwarten, wie ihr Urteil lauten würde. Und Gottes Urteil.
Die Mutter und ihre Söhne setzten sich wieder an den Küchentisch. Holger 2 sah, fühlte und verstand. Holger 1 sah nichts und verstand nichts. Aber er fühlte. Er fühlte das Bedürfnis, Henrietta zu trösten.
»Mach dir keine Sorgen, Mama«, sagte er. »Ich verspreche dir, dass ich niemals aufgeben werde! Solange ich lebe und atme, werde ich den Kampf in Papas Namen weiterführen. Solange ich lebe und atme! Hörst du, Mama?«
Henrietta hörte. Und was sie hörte, war einfach zu viel. Ihr Herz zerbrach. Am Kummer. An den Schuldgefühlen. An den unterdrückten Träumen, Visionen und Fantasien. Daran, dass fast nichts in ihrem Leben so gekommen war, wie sie es sich gewünscht hätte. Daran, dass sie zweiunddreißig Jahre in ständiger Sorge gelebt hatte. Und an der Aussage ihres einen Sohnes, dass der Wahnsinn weitergehen würde bis ans Ende aller Zeiten.
Doch vor allem waren die vierhundertsiebenundsechzigtausendzweihundert John Silver schuld, die sie seit dem Herbst 1947 geraucht hatte.
Henrietta war eine unheimlich starke Frau. Sie liebte ihre Kinder. Doch wenn ein Herz bricht, dann bricht es eben. Der massive Herzanfall setzte ihrem Leben innerhalb weniger Sekunden ein Ende.
* * * *
Holger 1 begriff nie, dass er – zusammen mit den Zigaretten – seine Mutter umgebracht hatte. Nummer zwei zog in Erwägung, es ihm zu sagen, dachte sich aber, dass davon wahrscheinlich nichts besser würde, also ließ er es. Durch die Todesanzeige in der Provinzzeitung von Södertälje wurde Nummer zwei zum ersten Mal bewusst, wie sehr es ihn nicht gab:
Unsere geliebte Frau
und Mutter
Henrietta Qvist
hinterlässt uns
in unendlicher Trauer
Södertälje, den 15. Mai 1979
INGMAR
Holger
–
Vive la République
7. KAPITEL
Von einer Bombe, die es nicht gab, und einem Ingenieur, den ziemlich bald dasselbe Schicksal ereilte
Nombeko saß wieder hinter ihrem Zwölftausendvolt-Zaun, und die Zeit verging. Die Erkenntnis, dass ihre Strafe im Endeffekt keine Obergrenze hatte, ärgerte sie immer noch weniger als die Tatsache, dass ihr das nicht von Anfang an klar gewesen war.
Ein paar Jahre nach Bombe Nummer eins waren die Bomben Nummer zwei und drei fertig geworden. Nach weiteren zwanzig Monaten auch die Bomben Nummer vier und fünf.
Die beiden Teams arbeiteten inzwischen völlig getrennt voneinander, sie wussten nicht einmal von der Existenz des jeweils anderen. Und immer noch kontrollierte allein der Ingenieur am Ende jedes fertige Exemplar. Da die Waffen in einem der gepanzerten Lagerräume im Bürotrakt des Ingenieurs lagerten, konnte er diese Kontrollen ganz ungestört durchführen. Und sich auch von seiner Putzfrau assistieren lassen, ohne dass jemand deswegen die Augenbrauen hochgezogen hätte. Wer auch immer da nun wem assistierte.
Der beschlossene und budgetierte Bedarf lag wie gesagt bei sechs Bomben zu jeweils drei Megatonnen. Doch der oberste Projektleiter, Engelbrecht van der Westhuizen, hatte keine Kontrolle mehr über das, was hier vor sich ging – wenn er die denn überhaupt jemals
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