Die Analphabetin, die rechnen konnte: Roman (German Edition)
Holger 1, der nach seinem knapp sechshundert Meter tiefen Fall mit zweihundert Stundenkilometern direktemang durch das marode Dach des Lagers krachte – und auf den fünfzigtausendsechshundertvierzig Kissen landete, die zufällig darin lagen.
»Ja … hallo, Schatz!« Die Miene der jungen Zornigen hellte sich auf. »Ich dachte, du bist in Bromma?«
»Lebe ich noch?« Holger 1 fasste sich an die Schulter, die nach den Misshandlungen des Vortags der einzige Fleck an seinem ganzen Körper war, der ihm nicht wehtat, nun aber den ersten Schlag abgefangen hatte, als er die Dachziegel durchschlug, die seinem Gewicht und seinem Schwung nichts entgegenzusetzen hatten.
»Sieht ganz so aus«, meinte Nombeko. »Aber wieso bist du denn durchs Dach gekommen?«
Holger 1 gab seiner Celestine einen Kuss auf die Wange. Dann bat er seinen Bruder, ihm einen doppelten Whisky einzuschenken. Nein, lieber einen dreifachen. Den musste er erst mal kippen, dann in sich hineinhorchen, ob noch alle Organe an ihrem angestammten Platz saßen, und sich einen Moment sammeln. Danach wollte er ihnen gerne alles erzählen.
Holger 2 entsprach dem Wunsch seines Bruders, und sie ließen Nummer eins mit Whisky, Kissen und Bombe allein.
Die junge Zornige warf einen kurzen Blick nach draußen, ob angesichts der Hausbesetzung schon Tumult auf der Straße entstanden war. Fehlanzeige. Und das war auch nicht überraschend. Erstens wohnten sie an einer wenig befahrenen Straße am Rande eines Industriegebiets, wo sie als Nachbarn nur einen Schrottplatz hatten. Zweitens war es sicher nicht für jeden offensichtlich, dass hier ein Haus besetzt wurde, nur weil ein Lkw mit zerstochenen Reifen in der Einfahrt stand.
Eine Hausbesetzung, um die sich keiner schert, verdient freilich ihren Namen nicht. Da beschloss die junge Zornige, der Entwicklung einen Schubs in die richtige Richtung zu geben.
Sie telefonierte ein wenig herum.
Erst bei Dagens Nyheter , dann bei Radio Sörmland und zum Schluss noch bei Södermanlands Nyheter . Bei DN bekam sie nur ein Gähnen zu hören. Aus der Perspektive von Stockholm liegt Gnesta am Ende der Welt. Bei Radio Sörmland in Eskilstuna leitete man die Sache weiter nach Nyköping, wo man Celestine bat, sich nach der Mittagspause zurückzumelden. Am meisten Interesse zeigte man noch bei Södermanlands Nyheter . Bis man erfuhr, dass die Aktion der Polizei gar nicht bekannt war.
»Aber lässt sich Ihre Hausbesetzung denn überhaupt als Hausbesetzung definieren, wenn kein Außenstehender das Gebäude für besetzt hält?«, sagte der philosophisch veranlagte (und eventuell auch etwas bequeme) Redakteur.
Die junge Zornige erklärte allen dreien, sie könnten zur Hölle fahren. Woraufhin sie die Polizei anrief. Eine arme Telefonistin in der Notrufzentrale Sundsvall nahm das Gespräch an.
»Hier ist die Polizei, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Tach auch, du Scheißbulle«, sagte die junge Zornige. »Wir werden jetzt die blutsaugerische kapitalistische Gesellschaft stürzen. Alle Macht zurück ans Volk!«
»Worum geht es denn bitte?«, fragte die verschreckte Telefonistin, die überhaupt keine Polizistin war.
»Das werd ich dir gleich erzählen, du dummes Weibsstück. Wir haben halb Gnesta besetzt. Und wenn wir unsere Forderungen nicht durchsetzen können …«
An dieser Stelle verlor die junge Zornige den Faden. Woher hatte sie bloß dieses »halb Gnesta«? Und was für Forderungen hatten sie überhaupt? Und was wollten sie tun, wenn sie sie nicht durchsetzen konnten?
»Halb Gnesta?«, wiederholte die Telefonistin. »Darf ich Sie weiterverbinden zu …«
»Die Fredsgatan 5«, sagte die junge Zornige. »Bist du taub?«
»Warum haben Sie halb … wer sind Sie überhaupt?«
»Das ist jetzt nicht wichtig, scheiß drauf. Wenn wir unsere Forderungen nicht durchsetzen können, springen wir einer nach dem anderen vom Dach, bis das Blut durch die ganze Gesellschaft fließt.«
Man hätte nicht mit Sicherheit sagen können, wer von diesen Worten überraschter war – die Telefonistin oder Celestine selbst.
»Bitte …«, sagte die Telefonistin. »Bitte bleiben Sie doch dran, dann verbinde ich Sie weiter zu …«
Weiter kam sie nicht, denn die junge Zornige legte auf. Damit war die Message ja wohl bei der Polizei angekommen. Auch wenn das Gespräch nicht ganz so verlaufen war, wie die junge Zornige es sich vorgestellt hatte.
Na ja, jetzt war es auf jeden Fall eine richtige Hausbesetzung, und das war ein gutes Gefühl.
In diesem
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