Die Anatomie des Todes
der Armen, bekommen. Er verdingte sich als Tagelöhner und konnte seine Familie mit Mühâ und Not über Wasser halten. Schon als Kind musste Tjodolv mit anpacken, zuerst half er seinem Vater, dann arbeitete er als Lotse im Industriehafen. Trotz des geringen Lohns verdiente er bald mehr als sein Vater in seinem gesamten Leben. Gemeinsam mit einem Freund sparte er so lange, bis sie sich eine Jolle und eine Angelausrüstung kaufen konnten. Wenn sie nicht im Hafen arbeiteten, waren sie auf See und fischten. Den Gewinn investierten sie in einen Kutter und konzentrierten sich mehr und mehr auf den Fischfang. Im Lauf der nächsten Jahre brachte dieser so viel Geld ein, dass sie sich drei weitere Kutter leisten konnten. Und später noch mal drei. Als Tjodolvs Partner während eines Sturms über Bord gespült wurde, war er plötzlich alleiniger Besitzer der gröÃten Fangflotte der Stadt. Der Grundstein für das spätere Imperium der Familie war gelegt.
»Was ist mit seinem Privatleben?«, wollte Maja wissen.
»Wäre Kirsten Kallvik nicht gewesen, heiÃt es allgemein, wäre Tjodolv Skarv vermutlich für immer auf See geblieben. Doch er verliebte sich in die reiche Kaufmannstochter aus der Ãvregata. Und da es völlig undenkbar war, dass sie einen Fischer heiratete, ging Tjodolv an Land. Er baute zunächst Kühlhäuser, die er an andere Fischer vermietete,
eröffnete ein Geschäft für Bordverpflegung und gründete schlieÃlich das gröÃte Schifffahrtsunternehmen der Stadt. Mit diesem Unternehmen kontrollierte er bald den gesamten Warenverkehr. Wann und in welchem Zustand jemand seine Waren bekam, lag praktisch in Skarvs Hand, und somit war er auch für die Familie Kallvik zu einem interessanten Geschäftspartner geworden. Er heiratete Kirsten, die ihm vier Söhne schenkte. Der Erstgeborene, Erik, ist heute Direktor des Skarv-Konzerns.«
»Irgendwelche Leichen im Keller?«
»Sucht man nach Flecken auf seiner weiÃen Weste, muss man wahrscheinlich bis zur Besatzungszeit zurückgehen. Noch heute kursieren Gerüchte, Tjodolv Skarv habe damals mit den Deutschen kollaboriert, aber man hat ihm nie etwas nachweisen können. Und vielleicht gründen die Gerüchte ja nur auf der Tatsache, dass Tjodolv Skarv die Kriegszeit besser überstanden hat als die meisten anderen Geschäftsleute. Heute ist der Skarv-Konzern ebenso in der Schifffahrtsindustrie wie im Einzelhandel, dem Ãlgeschäft und der Baubranche tätig. Als Hauptquartier dient nach wie vor die Familienresidenz am Jætteberg.«
»Was macht Erik Skarv heute? Du hast erzählt, dass sein ältester Sohn die Geschäfte übernommen hat.«
Stig nickte. »Vor acht bis zehn Jahren wurde Erik zum Chef des Konzerns ernannt und kommandiert seitdem seine jüngeren Brüder und den Rest der Belegschaft herum. Er gilt als harter Hund, aus demselben Holz geschnitzt wie sein Vater.«
»Ist er verheiratet?«
»Ja, gemeinsam mit seiner Frau und ihren beiden Töchtern zeigt er sich gerne an Feiertagen oder zu kulturellen Anlässen.«
Maja schmiegte sich an ihn und schloss die Augen. Sie genoss es, seine Haut an ihrer zu spüren.
»Ich vermute, das Tjodolv weniger Probleme als dein Vater hatte, sich das Geld für seine Investitionen zu beschaffen.«
»Ja, er war der Erste, der einen umfangreichen Kredit aufnahm.«
Es war sonderbar. Obwohl Stig sein gesamtes Leben in der Nähe von Tjodolv Skarv verbracht und schon aus beruflichem Interesse die Geschäftstätigkeit seiner Familie, Hochzeiten und Begräbnisse verfolgt hatte, wusste er nicht mehr zu berichten als diese Boulevardstory. Eine Geschichte, die umso mehr verfälscht wurde, je öfter sie von Mund zu Mund ging. Die allmählich irrationale und mystische Züge angenommen hatte. Die im GroÃen und Ganzen auf jede Familiendynastie gepasst hätte, ob die nun Møller, Springer, Onassis, Rockefeller oder Skarv hieÃ.
In Wahrheit hatte sie nichts erfahren, was sie dem Geheimnis von Tjodolv, Erik oder dem Rest der Familie Skarv auch nur ansatzweise näher gebracht hätte.
32
Maja fuhr auf dem Kaivei durch die Stadt. Die Brücke lag zu ihrer Linken und schien aus groÃer Höhe auf sie herabzustarren. Irgendwann wollte sie allen Mut zusammennehmen und sie erneut betreten, um von oben einen Blick auf das Heringsviertel zu werfen. Doch nicht heute. Heute
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