Die Anatomie des Todes
schien weder mit Edel Raaholdt noch mit Milten zu telefonieren. Vielleicht hatte er ihr die Geschichte ja wirklich abgekauft.
Sie schaute sich um und wartete darauf, dass der Wachmann sein Gespräch beenden würde. Direkt über ihr befand sich ein monumentales Deckengemälde. Es zeigte ein aufgewühltes Meer und mehrere Segelschiffe, die sich ihren Weg durch die Wellen pflügten, während in der Ferne die Küste zu erkennen war. Der Stil erinnerte an Eckersberg oder Johan Christian Dahl. Vielleicht war es ja wirklich einer der beiden gewesen, der seinerzeit auf einem Gerüst unter der Decke gehockt und das Gemälde angefertigt hatte. Sie wunderte sich über den groÃen Metallzeiger, der in der Mitte der Decke angebracht war und in eine Ecke zeigte.
Fehlte nur noch ein kleinerer Zeiger, und die gesamte Decke hätte wie ein riesiges Zifferblatt ausgesehen.
»Der zeigt immer nach Südost.«
»Bitte?« Maja schaute den Wachmann fragend an.
Der wies auf die Spitze des Zeigers, und erst jetzt erkannte sie die Himmelrichtungen, die unterhalb der Decke an die Wand gemalt waren. Sie wurden jeweils durch ein Schiff symbolisiert, über dem ein groÃer geschwungener Buchstabe die Richtung anzeigte.
»Eigentlich ist er mit dem Wetterhahn auf dem Dach verbunden, doch aus Sicherheitsgründen haben wir ihn blockiert. Während eines Sturms ist der Zeiger einmal fast von der Decke gestürzt.«
»Wer hat das Bild gemalt?«
Der Wachmann zuckte gleichgültig die Schultern. »Keine Ahnung.«
Er bat Maja, ihren Namen einzutragen und sich eines der kleinen Schildchen zu nehmen, die neben dem Gästebuch auf einem Tablett lagen. Sie sah, dass sie der erste Gast des heutigen Tages war, und heftete sich das Namensschild ans Revers. Der Wachmann bat sie Platz zu nehmen, bis sie abgeholt würde.
Sie setzte sich auf das Sofa gegenüber der Theke und fragte sich, wer sie wohl abholen würde. Vielleicht Erik Skarv oder eines der anderen Familienmitglieder, die sich um den Sterbenden kümmerten? Dann konnte sie vielleicht auch gleich ihren Familienverhältnissen auf den Grund gehen. Nachdem sie ein paar Minuten gewartet hatte, kam eine sehr nobel gekleidete Frau mittleren Alters die gen Osten geschwungene Treppe herunter. Ein wenig nasal stellte sie sich als »Ingrid Hertz, Sekretärin von Tjodolv Skarv« vor, und bat Maja, sie zu begleiten. Maja konnte nicht anders als ihre sorgsam manikürten Hände sowie die zierliche Cartier-Uhr zu bemerken, die ihr Handgelenk schmückte. Skarv
schien sich bei den Gehältern für seine Angestellten nicht lumpen zu lassen.
Maja wurde an einer Reihe von Büros vorbeigeführt, die vor Aktivität summten, und erreichte schlieÃlich den hintersten Trakt des riesigen Gebäudes. Als sie durch die groÃen gläsernen Flügeltüren schritten, die zum Neubau führten, wandte sich Maja an die Sekretärin.
»Ist hier der gesamte Skarv-Konzern angesiedelt?
»O nein, nur die Geschäftsleitung.«
»Und so viel Platz«, bemerkte Maja lächelnd.
»Ein geschichtsträchtiger Ort«, entgegnete Ingrid Hertz.
Den Rest des Weges, der zu Tjodolv Skarvs Gemächern führte, legten sie schweigend zurück. Als sie das Vorzimmer erreichten, das offenbar Ingrid Hertzâ Reich war, wurde Maja eine Liste ausgehändigt, auf der zahlreiche Medikamente standen. Eine private Krankenschwester hatte sie angefertigt, und nun war es offenbar an Maja, die Rezepte auszustellen. Maja erkundigte sich nach der Krankenschwester und erfuhr, dass diese erst später am Tag kommen würde. Ingrid Hertz erklärte, dass sich sowohl eine Krankenschwester als auch ein Physiotherapeut der täglichen Betreuung von Herrn Skarv annahmen. Eine deutlich bessere Relation zwischen Patient und Pflegepersonal als im Skansen, dachte Maja.
Sie überflog rasch die Liste, ehe sie ein Rezept ausstellte. Es handelte sich in erster Linie um schmerzstillende Präparate, was sie nicht überraschte, nachdem sie sich gestern Abend in Skarvs Patientenakte vertieft hatte. In den letzten Jahren hatte er einen verzweifelten Kampf um sein Leben geführt. Der Krebs hatte sich im Eiltempo durch seinen Körper gefressen und inzwischen die lebenswichtigen Organe befallen. Obwohl Skarv neben dem Skansen noch Krebskliniken in Colorado, Lausanne und Genua konsultiert hatte, war offenbar niemand in der Lage gewesen,
Weitere Kostenlose Bücher