Die Anatomie des Todes
der
fortschreitenden Krankheit Einhalt zu gebieten. Nun blieb ihm nur noch das letzte Privileg, zu Hause einschlafen zu dürfen statt in einem nach Desinfektionsmittel stinkenden Krankenhauszimmer.
Maja drückte die Klinke seiner Schlafzimmertür herunter. Sie zögerte kurz, ehe sie über die Schwelle trat. Obwohl drauÃen helllichter Tag war, waren die Vorhänge am Ende des langen Raumes geschlossen. Die einzige Lichtquelle bestand in der Nachttischlampe, die hinter dem weiÃen Vorhang schimmerte, der das Bett abschirmte. Durch einen schmalen Spalt konnte sie eine leblose Gestalt in einem Krankenbett sehen. Majas Augen gewöhnten sich allmählich an die Dunkelheit und erkannten nun, dass an den Wänden maritime Gemälde hingen und der FuÃboden mit dicken Perserteppichen ausgelegt war, den sie bedeckten wie ein gewebtes Meer. Sie trat vorsichtig an das Bett, das von Maschinen und Krankenhausutensilien umgeben war, als hätte man einen Teil des Skansen in dieses Schlafzimmer verlegt. Nur die vielen indischen Kissen und die Bettdecke aus Rohseide verrieten, dass es sich nicht um eine öffentliche Klinik handelte. Es waren nicht die zu niedrigen EKG-Werte, nicht die pfeifenden Geräusche des Inkubators, der die vom Krebs angegriffenen Lungen mit Sauerstoff versorgte, nicht die Infusion, die das Zentralnervensystem tröpfchenweise betäubte, damit der Körper nicht kollabierte. Es war auch nicht der vertraute Anblick des Defibrillators, der für einen letzten Wiederbelebungsversuch bereitstand. Nein, es waren nicht all diese Maschinen, die ihr die Nähe des Todes mitteilten. Sie sah ihn in seinen Augen, die von einer milchig weiÃen Schicht überzogen waren.
Tjodolv Skarvs Zustand war kritisch, aber stabil. Seiner Patientenakte zufolge hatte er sich während des letzten Monats kaum verändert. Nur die Dosis der Schmerzmittel war erhöht worden und die Ausstellung der Rezepte der einzige
Beleg dafür, dass ein Arzt hinzugezogen worden war. Aber das hätte man auch telefonisch erledigen können. Die Fürsorge einer Privatschwester â Ernährung, Verabreichung der Medikamente, Körperhygiene und Leeren des Katheters  â hätte vollkommen ausgereicht, um Tjodolv Skarv einen würdevollen Tod zu gewähren. Und das war mehr, als von einem öffentlichen Krankenhaus zu erwarten war. Maja justierte seine Sauerstoffzufuhr, die ihrer Meinung nach ein wenig zu niedrig eingestellt war. Ein gurgelnder Laut entwich seiner Kehle, der sich in seinen trockenen Gaumen fortpflanzte, ehe er auf die Wasserflasche deutete, die auf dem Nachttisch stand.
Behutsam steckte sie den Strohhalm zwischen seine Lippen. Tjodolv Skarv sog begierig, war aber offenbar nicht in der Lage zu schlucken, sodass ihm die Flüssigkeit aus den Mundwinkeln lief. Als sie seinen Kopf stützte, ging es besser. Nachdem er fertig getrunken hatte, tupfte sie ihm die Mundwinkel mit einer Serviette ab.
Er gab ein unverständliches Murmeln von sich.
Maja nahm dies als Dank und entgegnete: »Gern geschehen.«
Er versuchte lauter zu sprechen. Maja hielt ihr Ohr an seinen Mund und bat ihn, das Gesagte noch einmal zu wiederholen.
»Meeeerceeeeedes«, flüsterte er mit heiserer Stimme.
Skarv zeigte auf das Fenster und dann auf sein Ohr.
Er hatte sie kommen gehört.
Sie lächelte ihn an. »Ein 280 SE, Baujahr â72.«
»Fuel ⦠Injection?«, brachte er mühsam hervor.
»Natürlich.«
»Natüüürlich.« Er lächelte schwach.
»Er gehörte meinem GroÃvater, bis er ⦠bis ich ihn übernommen habe.«
Maja sah keinen Grund, ihm zu erzählen, dass sie das
Auto geerbt hatte. Stattdessen stellte sie sich rasch vor und sagte, dass sie aus demselben Ãrztehaus käme wie Dr. Miltevik, der leider verhindert sei. Sie wollte an Skarvs Totenbett nicht lügen und hoffte, dass er nicht fragen würde, warum Miltevik verhindert sei. Sie fragte, ob sie nun mit der Untersuchung beginnen dürfe.
»Um zu sehen, ob der Krebs noch da ist?«, bemerkte Skarv ironisch.
Maja lächelte zurück. »Das ist er ja leider.« Sie griff nach seinem dürren Handgelenk, um den Puls zu messen. Auf Skarvs Lippen zeigte sich etwas, das womöglich ein Lächeln war.
Der Puls war genauso schwach, wie die EKG-Daten auf dem Display anzeigten.
»Sie sind Dänin?«
Sie nickte. »Ja, aus
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