Die Anatomie des Todes
Intensität und fragt den Patienten, wie lange diese Symptome schon auftreten. Auf diese Weise kann man prinzipiell jeder erdenklichen Krankheit auf den Grund gehen.«
»Worauf willst du hinaus?«, fragte Stig und hob einen Stein auf, den er in hohem Bogen über die karge Fläche warf.
»Dass fast alle Einwohner dieser Stadt infiziert sind und die Krankheit Skarv heiÃt.«
Stig grinste. »Wenn das so wäre, hätte ich mich auch angesteckt.«
»Hast du ja auch.«
»Wie meinst du das?«
Sie zögerte, vor allem, weil sie sich vorgenommen hatte, ihm seine Passivität nicht vorzuwerfen. Stattdessen begann sie ihm von den Patienten zu erzählen, die sie in letzter Zeit untersucht hatte.
»Ich habe herausgefunden, dass zirka ein Drittel der Einwohner bei einem Unternehmen des Skarv-Konzerns angestellt ist oder zumindest Familienangehörige hat, die es sind. Und alle haben mir dasselbe über die Unternehmenskultur erzählt. Die quetschen ihre Mitarbeiter aus wie Zitronen, holen alles aus ihnen heraus und lassen sie dann fallen. Es ist wie auf einer römischen Galeere: Alle rudern um ihr Leben, und wer zusammenbricht, der wird den Krokodilen beziehungsweise dem Sozialamt zum Fraà vorgeworfen.«
»Und was hat das mit mir zu tun?«, fragte Stig. »Bin ich etwa auch Krokodilfutter?«
»Nein«, antwortete Maja. »Du ruderst schön im Takt.«
»Das ist nicht fair. Ich habe mich immer bemüht, frei und unabhängig zu berichten.«
»Bis Sie dir mit Kündigung gedroht haben, oder?«
Stig schüttelte irritiert den Kopf. »Das war eine hoffnungslose Story, die ich ohne Unterstützung der Redaktion niemals durchgekriegt hätte.«
»Tatsache ist aber, dass sie dich mit Erfolg unter Druck gesetzt haben.«
»Nein. Tatsache ist, dass ich meinen Job behalten habe und seitdem Dinge aufgedeckt habe, die hundertmal wichtiger sind.«
»Sag mir ehrlich, ob du dich genauso entschieden hättest, wenn dein Vater nicht seine Schiffe verloren hätte.«
Stig warf ihr einen zornigen Blick zu. »Was zum Teufel soll das heiÃen?«
»Dass die Familie Skarv diese Stadt schon seit Generationen mit ihrem Virus infiziert.«
Maja nahm zärtlich seinen Arm. »Ich zweifle nicht an deinen Motiven, aber letztendlich doktert ihr alle nur an den Symptomen herum, solange es niemand wagt, sich gegen diese Familie wirklich zur Wehr zu setzen.«
»Es geht hier nicht um Mut!«, fauchte Stig und entzog ihr
seinen Arm. Vermutlich hatte sie einen wunden Punkt berührt. »Wie mutig ist es, mit dem Kopf gegen die Wand zu laufen?«
»Wenn es viele Leute gleichzeitig tun, können sie die Wand zum Einsturz bringen.«
»Ach komm, spar dir deine Kalendersprüche! In Wahrheit hast du doch nicht einen handfesten Beweis gegen die Skarvs. Und all der Klatsch und Tratsch, den du gehört hast, könnte ebenso gut ein Ausdruck von Missgunst und Neid sein.«
»Ich glaube meinen Patienten.«
Stig stöhnte entnervt auf. Schweigend gingen sie bis zum Ende des Grundstücks. Maja bekam Bauchschmerzen. Sie hasste es, mit Stig zu streiten. Er hatte ihr geholfen, das Brücken-Trauma zu überwinden, und er hatte ihr mehr vertraut als jeder andere. Sie sollte auch ihm mehr Vertrauen entgegenbringen. Andererseits hatten sich die Dinge so zugespitzt, dass die Fronten klar abgegrenzt werden mussten. Sie brauchte seinen Scharfsinn und sein Engagement.
Sie lieÃen den Blick über den Hafen schweifen. Ihnen gegenüber lag die Promenade mit den Fischrestaurants, den Souvenirläden und den im Winter geschlossenen Eisdielen. Die Bootsanleger, an denen sich im Sommer die Segelboote drängten, lagen verlassen da. Maja zündete sich eine Zigarette an. Normalerweise rauchte sie nur, wenn sie trank, doch der Geruch des Meeres und der eisige Wind erhöhten ihre Lust auf Nikotin.
»Ich glaub, ich brauche jetzt auch eine«, sagte Stig. Sie hielt ihm die Schachtel hin.
Wie ein Ehepaar standen sie Arm in Arm, während sie ihre Zigaretten pafften und über die Hafeneinfahrt blickten.
»Falls Skarv ein bestimmtes Ziel verfolgt, könnte ich mir vorstellen, was hier gebaut werden soll.«
Maja schaute Stig neugierig an.
»Und was?«
»Worin besteht die wirkliche Stärke des Konzerns? Worauf basiert seine Macht und sein ökonomischer Einfluss?«
Maja zuckte die Schultern.
»Auf seiner
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