Die Anatomie des Todes
nehmen wollten. Den meisten schlug sie vor, sich an die Notaufnahme des Krankenhauses oder an ihren Hausarzt zu wenden. Doch als dieselben Leute kurz darauf verzweifelt wieder anriefen, konnte sich Maja ihren Bitten nicht länger verschlieÃen.
Der Unterschied zu ihrer früheren Arbeit war bemerkenswert. An ihren Behandlungsmethoden hatte sich nicht viel geändert, aber das Gefühl war ein völlig anderes. Allmählich begann sie sich zu fragen, wie es wäre, eine eigene Praxis zu haben. Ein Gedanke, den sie seit ihrer Abreise aus Dänemark immer weit von sich geschoben hatte. Die wachsende Gruppe von Patienten, die sie inzwischen privat behandelte, war ihr regelrecht ans Herz gewachsen. Auch nachdem sie sich vom letzten Patienten des Tages verabschiedet hatte, lieà sie der Gedanke an die einzelnen Fälle
nicht los, und selbst im Bett grübelte sie manchmal noch darüber nach. Das war ihr nie zuvor geschehen. Vielleicht lag es daran, dass es ihr eigener Entschluss gewesen war; dass sie ihre Patienten aus freien Stücken aufsuchte und nicht, weil es der Dienstplan vorschrieb oder die Organisation eines Ãrzte- oder Krankenhauses erforderte.
Maja bog von der HauptstraÃe ab und fuhr durch ein Wohnviertel, ihrer nächsten Patientin entgegen: Frau Petterson, die an einer Gürtelrose litt.
Ihre Hausbesuche hatten auf Maja noch eine andere Wirkung, die sie nicht vorhergesehen hatte. Sie sah keinen Anlass, den Leuten hinsichtlich ihres plötzlichen Ausscheidens aus dem Ãrztehaus etwas vorzumachen. Wenn sich jemand nach den Gründen erkundigte, sagte sie ohne Umschweife die Wahrheit. SchlieÃlich sollten die Menschen, die sich ihr willig anvertrauten, auch wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Darum erzählte sie denjenigen, sie es wissen wollten, nicht nur von ihrem Besuch bei der Familie Skarv, sondern auch von der Blutuntersuchung, die Milten ihr angedroht hatte. Nur ein Einziger traute sich nachzufragen, ob sie die Probe bestanden hätte. Maja antwortete freimütig, das wäre sehr unwahrscheinlich gewesen.
Am Anfang erschraken manche vor ihrer Ehrlichkeit. Als sie jedoch spürten, dass sie nicht nur kompetent, sondern auch mit einer persönlichen Fürsorge behandelt wurden, die sie von Dr. Miltevik nicht kannten, gewann Maja rasch ihr Vertrauen. Ein Vertrauen, das sich für Maja auszahlte, weil die Patienten viel von ihrem Privatleben preisgaben. Und nicht wenige von ihnen hatten im Lauf der Jahre persönliche Bekanntschaft mit der Familie Skarv gemacht. Die Gürtelrose von Frau Petterson hatte sich beispielsweise verschlimmert, nachdem der Skarv-Konzern sie entlassen hatte. Vierundzwanzig Jahre lang hatte sie dort in der Poststelle gearbeitet, doch offenbar hatte ihr Arbeitgeber nicht darauf
warten wollen, dass sich ihre Rückenbeschwerden wieder besserten. Stattdessen war Frau Petterson freigestellt worden, und eine neue Mitarbeiterin mit einem jungen, gesunden Rücken hatte ihre Stelle bekommen.
Jetzt lag Frau Petterson im Bett und konnte sich kaum noch rühren. Ein nachlässigerer Arzt, ein Arzt wie Milten, hätte sich damit begnügt, eine Herpessalbe zu verschreiben. Maja hingegen lieà sich von Frau Petterson ihre ganze Leidensgeschichte mitsamt all der Ungerechtigkeiten erzählen, die ihr wiederfahren waren, was schon einen heilenden Effekt zu haben schien.
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Es war nach dem Besuch bei Frau Petterson, dass Maja sich stark genug fühlte, erneut die Brücke aufzusuchen. Sie wollte sich nicht länger von ihrer Angst beherrschen lassen. Doch als sie kurz darauf neben Stig im Auto saÃ, der sie zum Hafen fuhr, schlotterten ihr bereits die Knie. Sie fühlte sich eingeengt. Die Windschutzscheibe, die Tür, das Dach, ja der gesamte Innenraum verursachten ihr Beklemmungen. Sie ärgerte sich darüber, dass sie sich nicht selbst hinters Steuer gesetzt hatte, dann wäre sie zumindest abgelenkt gewesen.
Maja löste panisch ihren Sicherheitsgurt und kurbelte die Scheibe halb herunter. Der eiskalte Wind beruhigte sie ein wenig.
Stig drehte sich zu ihr.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Sie nickte kurz. »Ich will es jetzt hinter mich bringen.«
Stig bog auf die Brücke ab. Es waren keine anderen Autos zu sehen, während sie den steilen Anstieg in Angriff nahmen. Der Wind nahm zu. Es kreischte in ihren Ohren. Dann war wieder das Hämmern des Metallschilds zu hören, das gegen die Brücke schlug. Obwohl
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