Die Anatomie des Todes
zwanzig Kilometer von der Stadt entfernt lag. Dem Foto nach zu urteilen handelte es sich eher um eine baufällige Jagdhütte. Selbst die Zellen im Staatsgefängnis boten wahrscheinlich mehr Komfort als dieser Unterschlupf.
Es musste sehr einsam dort oben sein. Hunger und Kälte mochten ihn vielleicht zermürbt haben, doch vermutlich war es die Einsamkeit gewesen, die Vikse veranlasst hatte, sich zu stellen. Er wirkte beinahe erleichtert, wie er dort auf dem Rücksitz des Streifenwagens saÃ, mit schmutzigen Kleidern und verfilzten Haaren, die unter seiner Mütze hervorlugten. Im hellen Scheinwerferlicht der Kamerateams lächelte er schüchtern den Menschen zu, die sich um ihn geschart hatten. Seine Hände steckten in Handschellen. Als er sie zum Gruà hob, explodierte das Blitzlichtgewitter.
Damit war er zur kriminellen Berühmtheit der Stadt geworden. Ihrem eigenen Manson. Ihrem Lundin. Ihrem Christer Pettersson.
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»Hat er gestanden?«, fragte Maja im selben Augenblick, in dem Stig zur Tür hereinkam.
»Ja«, antwortete er und hängte seine Jacke an den Garderobenhaken. »Angeblich hat er eine ganze Reihe von Gesetzesübertretungen zugegeben, die er während seiner Flucht begangen hat. Mehrere Einbrüche und Autodiebstähle.«
»Und den Mord an Kvam?«
»Dazu wollte der Kommissar sich nicht äuÃern, glaub ich aber nicht.«
»Glaubst du, dass er es war?«
Sie schaute Stig eindringlich an, der unwillkürlich den Blick abwandte.
»Das werden die Verhöre in den nächsten Tagen schon ans Licht bringen.«
»Ich habe dich aber nach deiner Meinung gefragt. Glaubst du, dass er ein Mörder ist?«
»Schwer zu sagen. Wer weià schon, was in anderen Menschen vor sich geht. Könnten wir unter bestimmten Umständen nicht alle zu Mördern werden?«
Sie schüttelte den Kopf. »Das ist etwas völlig anderes. Ich will nur wissen, welchen Eindruck er auf dich gemacht hat.«
»Okay, ich fand, dass er eine ziemlich jämmerliche Figur abgegeben hat. Ein armer Hund, der schon immer auf der Flucht war â wenn nicht vor anderen, dann vor sich selbst. Ein Auftragskiller sieht anders aus, wenn du das meinst.«
»Dann können wir wohl auch ausschlieÃen, dass er etwas mit den Vorgängen im Heringsviertel zu tun hat, oder?«
Stig zögerte.
»Ja, das können wir wohl. Glaube ich zumindest â okay?«
»Ist okay«, antwortete Maja lächelnd.
Es war alles eine Frage des Glaubens.
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»Der Psycho-Schlächter« lautete die Schlagzeile, gedruckt in fetten, roten Buchstaben, die sich über dem grobkörnigen Porträt Rolf Vikses befanden. Die Ãberschrift hing mit der Entdeckung zusammen, dass Vikse schon früher in psychiatrischer Behandlung gewesen war und nun erneut auf seinen Geisteszustand hin untersucht wurde. Stig nahm dieses Thema in den Abendnachrichten auf, indem er den führenden Psychiater der Stadt, Dr. Herman E. Titland, interviewte. Maja hatte den Eindruck, dass der Klinikdirektor in letzter Zeit ein bisschen zugelegt hatte. Vielleicht lag das an dem unmäÃigen Konsum von Molkenkäse oder seinen
eigenen Psychopharmaka. Titland erklärte, zu dem aktuellen Fall keine Stellung beziehen zu wollen, doch könne er sich natürlich zu Schizophrenie im Allgemeinen äuÃern. Dass Titland überhaupt einen Kommentar in dieser Debatte abgab, reichte in Majas Augen aus, um Vikse in der Ãffentlichkeit als Täter abzustempeln. Sie fürchtete vor allem eine völlig verzerrte Berichterstattung in den Medien, die auch die drei Todesfälle mit einschloss. Den eigentlichen Hintermännern war es nur recht, sich hinter der gewaltigen Staubwolke verstecken zu können, die derzeit aufgewirbelt wurde.
Als Stig an diesem Abend nach Hause kam, erkundigte er sich bei Maja nach ihren Kenntnissen über Schizophrenie. Sie betrachtete dies als Zugeständnis, da er mit Titland doch gerade einen ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet befragt hatte. Stig wollte wissen, ob sie auch schon schizophrene Patienten behandelt hätte.
Maja musste einräumen, dass sich ihre Kenntnisse auf diesem Gebiet auf das beschränkten, was sie aus ihrer Studienzeit im Gedächtnis behalten hatte.
»Mich interessiert vor allem, inwieweit diese Menschen eine Gefahr für ihre Umgebung darstellen, wenn sie zum Beispiel eine Zeit lang nicht die Medikamente
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