Die Anatomie des Todes
»Ich hab durch den Türspalt gesehen, was du getan hast.«
»Okay, ich bekenne mich schuldig«, entgegnete Maja lächelnd.
»Aber ich habe niemandem was verraten.«
»Das habe ich auch nicht gedacht.«
Lindas Gesicht leuchtete auf. »So ein Klatschmaul bin ich nämlich nicht, auÃerdem â¦Â«
»Ja?«
»AuÃerdem finde ich dich echt cool!«
Maja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Findest du mich nicht ein bisschen zu alt, um echt cool zu sein?«
Linda schüttelte den Kopf. »Ãberhaupt nicht.«
Maja leerte die letzte Schreibtischschublade. Sie selbst kam sich weniger cool vor. Denn auch wenn es Milten war, der sie rausgeschmissen hatte, gab es eine Reihe unschuldiger Menschen, die jetzt die Folgen ihres Verhaltens auszubaden hatten.
»Linda, ich habe mich gefragt, ob du mir vielleicht einen groÃen Gefallen tun könntest.«
Maja erklärte, dass unter ihrem plötzlichen Abschied alle Patienten leiden müssten, die für nächste Woche schon einen Termin hätten. »Deshalb habe ich gedacht, ob wir beide ihnen nicht helfen könnten.«
Linda schaute sie fragend an. »Aber wie?«
Maja bat sie, die Tür zu schlieÃen. Dann schlug sie ihr vor, ohne Miltens Wissen eine kleine Verbredung zu treffen.
»Was für eine Verabredung?«, flüsterte Linda.
»Den Patienten, die ihr nicht mehr einschieben könnt, gibst du einfach meine Handynummer. Dann besuche ich sie zu Hause und behandele sie weiter.«
»Das ist doch bestimmt streng verboten«, sagte Linda mit Begeisterung in der Stimme.
Maja nickte. »Solange wir keine Bezahlung nehmen, kann uns jedenfalls niemand der Quacksalberei bezichtigen. AuÃerdem erfüllen wir nur den wichtigsten Teil unseres Eids,
nämlich Menschen überall dort zu helfen, wo sie in Not sind.« Maja zog den ReiÃverschluss ihrer Tasche zu und fragte: »Und, haben wir eine Verabredung?«
»Klar!«, antwortete Linda. Ihre Augen strahlten. »Ich sag doch, du bist echt cool. Du findest immer eine Lösung.«
Maja zuckte die Schultern. Sie konnte Lindas Begeisterung zwar nicht ganz teilen, bedankte sich aber für die Hilfe. Als plötzlich Milten im Türrahmen stand, wurden sie sofort wieder ernst. Maja packte rasch die letzten Dinge zusammen. Den Schuhkarton musste sie zurücklassen.
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Das Gerücht ihrer Kündigung schien ihr vorauszueilen. Gut möglich, dass Erik Skarv und Milten das Ihrige dazu beigetragen hatten. Jedenfalls blieben ihre zahlreichen telefonischen Anfragen nach einer Stellvertretung ohne Erfolg, was in Anbetracht des allgegenwärtigen Ãrztemangels im ganzen Land äuÃerst verwunderlich war. Doch offensichtlich verfolgten sie den Plan, Maja in dieser Stadt die Lebensgrundlage zu entziehen. Sie nahm dies als Zeichen ihrer Verzweifelung oder als Ausdruck ihrer Eitelkeit. Dass Erik Skarv Milten beauftragt hatte, sie zu feuern, zeigte ihr überdies, dass er auf eigene Rechnung und ohne Einbeziehung seines Vaters handelte. Denn sie war sich ganz sicher, dass ein Tjodolv Skarv im Vollbesitz seiner Kräfte konsequenter gewesen wäre. Der hätte nicht nur mit einer Blutprobe gedroht, sondern dafür gesorgt, dass sie endgültig diskreditiert wurde. Erik Skarvs Verhalten war nur ein schwacher Abglanz der Entschlusskraft, die sein Vater gegenüber LokalNyt an den Tag gelegt hatte. Dessen Angriff hatte damals zum Erfolg geführt, weil er konsequent und zielgerichtet gewesen war.
Trotz ihrer Kündigung und der Tatsache, dass sie den Schuhkarton hatte zurücklassen müssen, sah Maja der weiteren Entwicklung durchaus hoffnungsvoll entgegen. Erik
Skarv hatte seine persönliche Schwäche unter Beweis gestellt und war ein unnötiges Risiko eingegangen â vielleicht nicht zum ersten Mal.
Was als Ãbergangslösung für ihre Patienten gedacht war, nahm binnen kürzester Zeit ungeahnte Formen an. Ihre weiteren Recherchen in Sachen Erik Skarv mussten wohl oder übel warten.
Das Gerücht über die kostenlose ärztliche Behandlung verbreitete sich in Windeseile. Maja erhielt mehr Anfragen, als sie bewältigen konnte, und zwar nicht nur von ihren ehemaligen Patienten, sondern auch von deren Familienmitgliedern, Freunden und Nachbarn, die alle von der geheimen Abmachung erfahren hatten. Es gab Tage, da stand ihr Handy nicht still, weil Gott und die Welt ihre Hilfe in Anspruch
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