Die Anatomie des Todes
die Sonne am eisblauen Himmel über dem Fjord stand, meinte Maja von Schneeflocken umgeben
zu sein, als sie den höchsten Punkt der Brücke passierten. Sie fielen einfach durch das Dach des Wagens, wirbelten um ihr Gesicht und schmolzen auf ihren Handrücken. Doch sie schloss nicht die Augen, um sie zu vertreiben. Sie starrte regungslos vor sich hin, bis das Heringsviertel in Sichtweite und der Schneesturm vorüber war.
Stig parkte vor ihrem Haus. Als sie durch die Pforte schritten, bemerkten sie sofort, dass die Haustür offen stand. Anscheinend war sie aufgetreten worden, denn der Türrahmen war zersplittert. Maja streckte den Kopf ins Treppenhaus. Eigil Kvams Tür war geschlossen, dafür stand ihre eigene sperrangelweit offen.
»Sollen wir die Polizei rufen?«, fragte Stig.
»Ja, das wird wohl das Beste sein«, antwortete Maja und ging ins Haus.
Sie glaubte nicht, dass die Einbrecher noch im Haus waren, dennoch entsicherte sie den Injektor in ihrer Tasche.
Als sie den oberen Treppenabsatz erreichten, konnten sie durch die offene Tür direkt in Majas völlig zertrümmertes Wohnzimmer blicken. Es erinnerte sie an die Verwüstung von Kvams Wohnung, in der ebenfalls kein einziges Möbelstück heil geblieben war. Stig ging an ihr vorbei und betrat als Erster die Wohnung. Sie bemerkte seine geballten Fäuste und dachte, dass er sicher genauso nervös war wie sie. Das beruhigte sie ein wenig, gab ihr das Gefühl, nicht allein zu sein.
Das Schlafzimmer war ebenfalls verwüstet, auch was ihre Garderobe betraf. Das Motiv der Einbrecher war auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber sie hatten ganze Arbeit geleistet.
»Was meinst du, wonach die gesucht haben?«, fragte Stig.
Sie setzte sich auf die Kante des umgekippten Betts und zog einen ihrer BHs aus dem Kleiderhaufen. Beide Körbchen waren aufgeschlitzt.
»Ich glaube, sie wollten mir lediglich eine Botschaft übermitteln, weil ich selber nicht zu Hause war.«
Falls sie recht hatte, war die Botschaft eindeutig. Heil geblieben war einzig und allein ihr Koffer, der mitten im Zimmer stand.
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Als sie am Grundstück von Jo Lilleengen vorbeifuhren, drehte Maja sich abrupt um.
»Halt mal an!«, rief sie überrascht.
Stig trat auf die Bremse. »Was ist los?«
»Fahr zurück!«
Er legte den Rückwärtsgang ein und lieà den Wagen langsam vor die Gartenpforte rollen.
»Das darf doch nicht wahr sein«, sagte Stig. »Hat hier nicht vor kurzem noch das Haus von Jo Lilleengen gestanden?«
Maja stieg schweigend aus und ging zur Gartenpforte. Stig folgte ihr. Nur das rostige Tor zeugte davon, dass sich hier einmal ein Haus befunden hatte. Vor ihnen erstreckte sich eine unbebaute Fläche. Eine Fläche, die sich enorm vergröÃert hatte, weil sie die umliegenden Grundstücke, die ebenfalls gerodet worden waren, mit einschloss. Auf diese Weise war ein direkter Zugang zur Hafenfront geschaffen worden.
»Das Grundstück ist ja so groà wie ein FuÃballfeld geworden«, sagte Stig.
Sie nickte. »Finanziert mit einem Kredit von S-finans, einem Unternehmen der Familie Skarv.«
Maja öffnete das Tor und betrat gemeinsam mit Stig das Grundstück. »Glaubst du immer noch, dass der Skarv-Konzern kein Interesse am Heringsviertel hat?«
Das Grundstück war nahezu von allen Spuren der Vergangenheit befreit. Auch deutete nichts darauf hin, was hier entstehen sollte.
Sie fragte sich für einen kurzen Moment, ob die Familie
Skarv vielleicht hierher übersiedeln wollte. Ob alle drei Generationen in einem Domizil vereint werden sollten, das noch gröÃer als dasjenige an der KüstenstraÃe war. Aber dann verwarf sie den Gedanken. Mit dem Anwesen an der KüstenstraÃe hatte es sicher eine besondere Bewandtnis, vor allem für Tjodolv Skarv. Kaum vorstellbar, dass er freiwillig zu der Insel zurückkehren würde, von der er sich unter groÃen Mühen befreit hatte.
Abgesehen von den wenigen Habseligkeiten, an die sich Eva Lilleengen klammerte, und den Fotos, die Maja versteckt hielt, erinnerte nichts mehr an Jo. Selbst den Ort seines Todes gab es nicht mehr.
Maja steckte fröstelnd die Hände in die Taschen. »WeiÃt du, wie man eine Diagnose stellt?«, fragte sie ohne sich umzudrehen.
»Nein«, antwortete Stig erwartungsgemäÃ.
»Zunächst verschafft man sich einen Eindruck von den Symptomen. Man prüft ihre
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