Die Anatomie des Todes
und ob ihre geleistete Arbeitszeit noch anerkannt wurde. Die Ausbildung ohne Angabe von Gründen einfach unterbrochen zu haben, konnte schlimmstenfalls bedeuten, dass ihre bisherige Facharztausbildung annulliert wurde.
»Keld Skouboe«, hörte sie am anderen Ende der Leitung.
Sie verspürte ein Ziehen im Magen, als sie seine Stimme hörte.
»Ich bin es, Maja ⦠Maja Holm.«
Sie erwartete, dass er immer noch zornig war oder zumindest seine Enttäuschung zum Ausdruck bringen würde, doch Skouboe schien ihr fast dankbar zu sein â wie ein gütiger GroÃvater, der schon lange auf den Anruf seiner Enkelin gewartet hatte. Ihre Entschuldigung nahm er mit einem »Ach so, hm, na ja« zur Kenntnis und erkundigte sich nach ihrem Wohlergehen.
Maja versicherte ihm, dass es ihr gut gehe, und berichtete in groben Zügen von ihrer Zeit in Norwegen. Natürlich erwähnte sie die Mordfälle mit keiner Silbe, und auch den unfreiwilligen Verlust ihres Arbeitsplatzes lieà sie auÃen vor. Skouboe lieà es dabei bewenden. Im GroÃen und Ganzen schien er mit der Auskunft zufrieden, dass sie gesund war und ihre Ausbildung fortsetzte.
»Also, Maja, wann fängst du wieder bei uns an, um den letzten Rest deiner Ausbildung über die Bühne zu bringen?«
Seine Einladung kam für sie völlig überraschend. Sie suchte nach den richtigen Worten. »Das ⦠das weià ich
noch nicht genau. Ich muss mich erst erkundigen, ob meine bisherigen Qualifikationen noch anerkannt werden.«
»Also, an mir sollâs nicht liegen«, entgegnete Skouboe. »Deine Ausbildung soll sich ja nicht mehr unnötig in die Länge ziehen.«
Es war weniger die Erleichterung, dass sie vermutlich nicht von vorn beginnen musste, sondern vor allem Skouboes unbeeinträchtigtes Wohlwollen, das sie überraschte und rührte. Sie spürte, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen, und musste sich zusammennehmen, um ihnen nicht freien Lauf zu lassen.
»Und dann muss ich mich ja auch noch nach den Zeiten für die Fähre erkundigen.«
Skouboe lachte und antwortete, sie solle sich nur genug Zeit lassen. Er würde sich inzwischen um die Formalitäten kümmern, damit sie genau dort weitermachen könne, wo sie aufgehört habe. Maja wusste, dass er verschiedene Hebel in Bewegung setzen musste, um das zu erreichen. Als sie aufgelegt hatte, vermisste sie ihn bereits.
Dennoch betrachtete sie Skouboes groÃzügiges Angebot mit gemischten Gefühlen. Es erleichterte ihr zwar die Rückkehr, doch umso stärker spürte sie, dass sie einige offene Fragen zurücklassen musste. Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass irgendwelche Beweise auftauchen würden, die widerlegten, dass Jo Lilleengen einen Rückfall erlitten hatte und an einer Ãberdosis gestorben war.
Auch die Zahl ihrer Patienten hatte abgenommen, nachdem Milten einen Ersatz für sie gefunden hatte. Es handelte sich um einen iranischen Chirurgen namens Amini, der aus seinem Heimatland geflüchtet war. Linda zufolge war er nicht nur ein phantastischer Arzt, sondern auch umwerfend komisch. Leider hatte Amini ihr altes Büro übernommen, was es Maja noch schwieriger machte, an ihren Schuhkarton zu kommen. Noch hatte sie keine Ahnung, wie sie dieses
Problem lösen sollte. Vielleicht würde sie doch gezwungen sein, Linda ins Vertrauen zu ziehen.
Unter allen Umständen war es wichtig, sämtliches Material über den »Fall« zu vernichten. Nur die Fotos wollte sie behalten und Eva Lilleengen irgendwann zukommen lassen.
Allerdings hatte sie groÃe Schwierigkeiten mit dem Begleitbrief, den sie bereits begonnen hatte. Sie wollte Eva Lilleengen mitteilen, dass sie nicht die Einzige sei, die sich Gedanken über den Tod ihres Sohnes machte. Die sich Gedanken darüber machte, was ihren Sohn so gequält haben könnte, dass er seinem Leben mit einer Ãberdosis ein Ende setzte.
Im Grunde ging es mit dem Brief so langsam voran, weil Maja sich nicht wirklich vorstellen konnte, wie es war, sein eigenes Kind zu verlieren. Denjenigen zu begraben, dem man das Leben geschenkt hatte. Den man gestillt hatte. Dem man bedingungslose Liebe gegeben hatte. Dessen Entwicklung man unterstützt und beobachtet hatte. In den man so groÃe Hoffnungen gesetzt hatte. Darum wusste Maja auch nicht, welche Worte Eva Lilleengen hätten trösten können. Falls Trost überhaupt möglich
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