Die Anatomie des Todes
meisten Schlafmittel würden in Kombination mit den anderen Medikamenten, die sie bereits einnahm, eine ungeheuer starke Wirkung entfalten.
»Damit habe ich noch nie Probleme gehabt. Ich könnte doch vielleicht eine halbe Tablette nehmen«, schlug sie ein wenig verzweifelt vor.
»Nun gibt es ja keine halben Tabletten â¦Â«
»Könnte ich darüber noch mal mit Dr. Torp sprechen?«
»Der ist derzeit leider krank. Aber Sie haben recht. Sie sollten die Zusammenstellung Ihrer Medikamente mit Niels Ole ⦠mit Dr. Torp besprechen.«
»Wann kann ich das tun?«
»Am Empfang gibt man Ihnen gern einen neuen Termin.«
Der Blick der Frau flackerte nervös.
»Aber das kann doch mehrere Tage dauern.«
Maja nickte entschuldigend. »Ja, mit ein bisschen Wartezeit müssen Sie schon rechnen.«
»Aber ich kann überhaupt nicht mehr schlafen! Verstehen Sie das denn nicht?« Ihre Stimme überschlug sich fast vor Aufregung.
Maja war drauf und dran, das verfluchte Rezept auszustellen. Aber es wäre unverantwortlich gewesen, einer offenbar depressiven Patientin ein Mittel zu verschreiben, dessen Dosis in Kombination mit anderen Stoffen tödlich sein konnte.
»Mehr kann ich im Moment leider nicht für Sie tun, es sei denn, wir reduzieren die Menge Ihrer übrigen Medikamente.«
Die ältere Dame schüttelte hilflos den Kopf. »Das ⦠das kann ich nicht. Ich brauche nur etwas, das mich ein bisschen schlafen lässt.«
»Ich werde dafür sorgen, dass Sie so bald wie möglich einen neuen Termin bekommen.«
Die Frau stand langsam auf und zog ihren Mantel an. Sie nickte Maja höflich zu, ehe sie das Zimmer verlieÃ. Maja griff zum Telefon und rief am Empfang an.
»Linda, bitte geben Sie einer Patientin von Niels Ole möglichst rasch einen neuen Termin.« Sie suchte nach dem Namen der Patientin und fand ihn auf der Vorderseite ihrer Akte.
»Wie ist denn der Name?«, erkundigte sich Linda ein wenig ungeduldig.
Maja starrte auf die mit der Maschine geschriebenen Buchstaben und räusperte sich. »Sie heiÃt Eva Lilleengen. Sie war gerade bei mir.«
»Ich kümmere mich darum. Soll ich den nächsten Patienten hereinlassen?«
»Ja«, antwortete Maja leise.
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Maja hatte den Rest des Nachmittags damit verbracht, Eva Lilleengens Krankengeschichte zu studieren und den im Lauf der Zeit verordneten Medikamenten besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Nach ihrer Hüftoperation vor acht Jahren hatte die Menge der schmerzstillenden Mittel erheblich zugenommen. Was an sich nichts Ungewöhnliches war. SchlieÃlich hatte Maja sich eine bestimmte Kombination von Präparaten einfallen lassen, die die Schmerzen stillen, den Schlaf gewährleisten und die Psyche stabilisieren würde, ohne sie in Lebensgefahr zu bringen.
Sie hätte die Frau selbst anrufen oder ihr das Rezept vorbeibringen können, aber das tat sie nicht. Stattdessen stand sie ganz hinten im Kirchenraum und verfolgte die Trauerfeier
für Jo Lilleengen. Es war Linda, die sie auf die Beerdigung aufmerksam gemacht hatte, nachdem die Todesanzeige in der Vestposten erschienen war.
AuÃer Maja und Eva Lilleengen war niemand anwesend. Die Mutter des Verstorbenen saà in der vordersten Reihe, so nahe am Eichensarg wie möglich.
Nach den Worten des Pfarrers sangen sie ein Lied, genauer gesagt, die einzige Angehörige tat es. Maja kam das norwegische Kirchenlied irgendwie bekannt vor, aber mit dem Text haperte es. Danach kehrte der Pfarrer dem Altar den Rücken und ging zu Frau Lilleengen. Sie bedankte sich bei ihm, während er lange und fürsorglich ihre Hand hielt. Maja trat an den Sarg, der von drei BlumensträuÃen und einem schlichten Kranz umgeben war. Sie fragte sich, vom wem all die Blumen wohl sein mochten, da keine anderen Trauergäste als die Mutter des Verstorbenen anwesend waren. Besonders ein Strauà dekorativer weiÃer Lilien fiel ihr auf.
»Die sind von Ãivind. Er hat Jo gefunden«, sagte Eva Lilleengen, die sich Maja unbemerkt genähert hatte.
»Er konnte nicht kommen, ist wohl auf See.«
Maja nickte und streckte ihr die Hand entgegen.
»Darf ich Ihnen mein Beileid ausdrücken?«
»Vielen Dank. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind.«
Dann atmete sie tief durch und warf einen betrübten Blick auf die Blumen.
»Es ist ja gut gemeint, aber doch schade, all die schönen
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