Die Anatomie des Todes
den Kopf. »Nein, aber einige meiner Patienten sind drogenabhängig.«
»Sie kennen also ihre Verzweiflung? Man sieht sie in ihren Augen.« Eva Lilleengen schaute sie durchdringend an.
»Ja, und ich weiÃ, was Entzugserscheinungen bedeuten.«
»Dann kennen Sie also auch all die Lügen und Drohungen ⦠die Beschimpfungen.«
»Natürlich.«
»Die Diebstähle â¦Â«
Maja schaute sie überrascht an. »Hat Ihr eigener Sohn Sie bestohlen?«
Wieder dieses Zögern, als müsse sich Eva Lilleengen erst entscheiden, ob sie Maja vertrauen konnte. »Er hat alles getan, um an den Stoff zu kommen.« Sie trank einen Schluck. »Glauben Sie mir, mit Rückfällen kenne ich mich aus.«
Maja nickte. »Ich habe in seiner Patientenakte gelesen, dass er mehrmals in Behandlung war.«
»Ja, es hat lange gedauert, bis er davon losgekommen ist. Aber danach wurde es fast noch schlimmer.«
»Inwiefern?«
»Man konnte förmlich darauf warten, dass er es nicht mehr länger aushielt. Und eines Tages war dann meine Tür aufgebrochen. Es fehlten Geld und Medikamente, selbst mein Transistorradio war verschwunden.«
»Das muss sehr hart für Sie gewesen sein.«
Die alte Dame atmete tief durch. »Ich wünsche niemandem, das durchmachen zu müssen, was ich durchgemacht habe, seinen eigenen Sohn abweisen zu müssen.« Sie klopfte die Asche ab, ehe sie fortfuhr: »Niemand kann sich vorstellen, wie furchtbar es ist, die Polizei zu alarmieren, damit sie deinen Jungen festnehmen.«
Eva Lilleengen starrte aus dem schmutzigen Fenster, doch ihrem leeren Blick nach zu urteilen, nahm sie weder die Passanten noch die Autos wahr, die drauÃen vorbeifuhren.
»Haben Sie Jo allein aufgezogen?«
»Es war nie jemand da, der mir geholfen hat. Auch sein Vater nicht, wenn Sie darauf anspielen.«
»Sie dürfen hier nicht rauchen. Sonst bekomme ich ein BuÃgeld aufgebrummt«, sagte ein junger türkischer Mann mit deutlichem Akzent, der sich die Hände an einem Lappen abwischte.
Eva Lilleengen sah zuerst ihn, dann Maja verwirrt an.
»Was sagt er?«
Maja lächelte dem Inhaber zu. »Vielleicht könnten Sie aus gegebenem Anlass heute eine Ausnahme machen.«
Er breitete hilflos die Arme aus. »Die Gesetze denke ich mir ja nicht selber aus.«
»Aber ich bezahle das BuÃgeld.« Mit diesen Worten zog sie fünfhundert Kronen aus der Tasche und gab ihm die Scheine.
»Also dafür können Sie auch zwei rauchen.«
Er steckte sich lächelnd das Geld in die Tasche und kehrte, den Putzlappen über der Schulter, in die Küche zurück.
Die drei türkischen Männer am Nebentisch hatten die
Szene beobachtet und zogen nun ihre eigenen Zigaretten hervor. Der Ãlteste von ihnen nickte Maja höflich zu. Im nächsten Moment zogen die Schwaden des grünen Diyarbakir-Tabaks durch das Lokal.
»Ich habe der Patientenakte Ihres Sohnes entnommen, dass er vor Jahren in Methadonbehandlung war«, sagte Maja.
»Ja, das ist richtig.«
»Wissen Sie, wie es ihm später gelungen ist, an Methadon heranzukommen?«
Eva Lilleengen schüttelte den Kopf. »Wie sollte ich?«
Maja zuckte die Schultern.
»Ich dachte, dass Dr. Torp Ihnen vielleicht â¦Â«
»Jetzt reden Sie wie die Polizei!« Sie warf Maja einen zornigen Blick zu. »Als wäre das meine Schuld.«
Maja schoss die Röte ins Gesicht. Der Ausbruch der alten Dame war überraschend heftig gewesen.
»Entschuldigung, das wollte ich damit nicht sagen.«
»Dann hören Sie bitte mit Ihren vorwurfsvollen Fragen auf!« Es klang fast flehentlich.
»Das tut mir wirklich leid. Ich wollte Ihnen keinerlei Vorwürfe machen.«
Eva Lilleengen schüttelte den Kopf. »Es ist nur, weil ich mich frage, wie alles so weit kommen konnte. Ich habe doch alles für ihn getan.« Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt.
»Daran habe ich nicht den geringsten Zweifel.«
»Warum sollte er sich das Leben nehmen?«
Eva Lilleengen mühte sich damit ab, eine Serviette aus dem Ständer zu ziehen.
»Vielleicht hat ihn etwas belastet, von dem selbst Sie nichts gewusst haben«, schlug Maja vor.
»Was sollte das sein? Er hatte doch noch sein ganzes Leben vor sich. Wollte mit einer Ausbildung anfangen. Ich
weià nicht, was ihn so sehr hätte belasten sollen.« Sie trocknete sich die
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