Die Anatomie des Todes
die Augen zu sehen. »Hab mir vorhin schon gedacht, dass ich Sie erkannt habe.«
»Sind wir uns schon mal irgendwo begegnet?«
»Wir arbeiten beide im Skansen.«
Maja dachte angestrengt nach, aber das Gesicht der Frau sagte ihr nichts. »Sind Sie auch in der Notaufnahme?«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Nein, in der Pathologie.«
»SaÃen Sie an dem Tisch und haben Gewebeproben untersucht, während ich mit Dr. Linz gesprochen habe?«
Sie nickte. »Ja, das war ich.«
»Gar nicht so leicht, Sie ohne Maske wiederzuerkennen.«
»Meine Burka«, bemerkte die Frau mit verschämtem Lächeln. »So nennt sie mein Chef jedenfalls.«
»Sicher nicht einfach, mit ihm zusammenzuarbeiten.«
»Er ist ein sehr tüchtiger Arzt.« Erneut lächelte sie scheu. Maja nahm ihre Bluse mit den kleinen, blauen Kornblumen aus dem Spind.
»Werden Sie lange hier bleiben?«, wollte die Frau wissen, während sie sich den feuchten Gymnastikanzug vom Leib zerrte und auf den Boden warf.
»Nur noch diesen Monat, nehme ich an.«
Maja schätzte, dass die Frau ungefähr in ihrem Alter war, aber man konnte nie wissen ⦠die Leute in dieser Gegend schienen aus irgendeinem Grund schneller zu altern.
Die Frau suchte in einer Plastiktüte, in der sie sämtliche Utensilien aufbewahrte, nach einem Shampoo.
»Und Sie? Arbeiten Sie schon lange hier am Krankenhaus?«, fragte Maja.
Die Frau nickte stolz. »Im Dezember sind es sechs Jahre.«
Maja schnürte ihre Sneaker.
»Die ganze Zeit in der Pathologie?«
»Ja, es ist so schön, wenn man endlich seine Berufung gefunden hat«, antwortete sie.
Maja wunderte sich immer darüber, wie viele Angestellte im Gesundheitsbereich ihren Job als Berufung bezeichneten. Sie selbst konnte sich kaum noch daran erinnern, warum sie eigentlich Medizin studiert hatte. Zumindest war es eher eine Notlösung als eine Berufung gewesen.
Sie schulterte ihre Tasche und ging zur Tür. »Nett, Sie kennengelernt zu haben.«
»Petra!«, sagte die Frau rasch. »Mein Name ist Petra.«
»Ich heiÃe Maja«, entgegnete sie. »Wir sehen uns â¦Â«
Petra lächelte verlegen.
Maja wollte gerade die Tür hinter sich schlieÃen, als Petra sagte: »Ich kann ihn für dich besorgen.«
»Bitte?«
»Den Obduktionsbericht.«
»Ach ⦠wirklich?« Maja konnte ihre Verblüffung nicht verbergen.
»Das heiÃt, falls du noch daran interessiert bist.«
Maja nickte energisch. »Natürlich bin ich das, aber macht dir das nicht zu viele Umstände?«
»Nein, nein, das geht schon.«
»Soll ich zu dir auf die Station kommen, um ihn abzuholen?«
»Nein, ich denke, mein Chef ⦠braucht davon ja nichts mitzubekommen.«
Maja nickte und warf ihr einen vertraulichen Blick zu. »Du kannst ihn ja auch einfach in mein Fach legen.«
Petra rümpfte die Nase. »Es gibt so viele, die in den Unterlagen ihrer Kollegen herumschnüffeln. Kannst du nicht später bei mir zu Hause vorbeikommen?«
»Ich mache erst um acht Uhr Feierabend, wird das nicht zu spät?«
Petra schüttelte den Kopf. »Nein, das passt perfekt.«
»Dann musst du mir noch deine Adresse sagen.«
»Haralds Have. WeiÃt du, wo das ist?«
Maja nickte.
»Block C, Nummer 26, Wohnung 11. An der Tür steht Jakola. Soll ich es dir aufschreiben?«
»Nicht nötig. C, 26 11, Jakola. Dann sehen wir uns so gegen halb neun.« Maja ging lächelnd aus der Tür.
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Es war Viertel vor neun, als Maja über die kleine Brücke fuhr und Haralds Have erreichte. Sie kannte diese Wohnanlage
durch Eva Lilleengen und die vielen Hausbesuche, die sie hier absolviert hatte. Schwer zu entscheiden, welche Wohngegend trostloser war, ihre eigene auf der Insel oder die anonymen Wohntürme, die hier in den Nachthimmel ragten. So verschiedenartig die Leiden ihrer Patienten auch waren, so mussten sie doch alle in dieser deprimierenden Umgebung ausharren.
Maja parkte direkt vor Block C und verfrachtete ihre Arzttasche in den Kofferraum. Warum sollte sie jemanden einladen, ihr die Autoscheibe einzuwerfen?
Dem kalten, aquariengleichen Licht nach zu urteilen, das die Fenster erhellte, saÃen die meisten Leute vor dem Fernseher. Wie viele sich mit ihrem monotonen Leben abfinden, dachte sie. Hier wie in Lyngby. Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die
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