Die Anatomie des Todes
war.
»Ich glaube, du hast recht«, sagte er.
Sie zog den Lippenstift aus der Tasche, hielt Stig am Kinn fest und malte einen dicken Strich auf seine Wange, ehe er sich wehren konnte. Stig verzog das Gesicht und wollte sich den Strich sofort wieder abwischen.
»Nicht!«, rief Maja und schüttelte warnend den Kopf.
Erneut warf sie einen Blick auf die Zeichnung des Obduktionsberichts und stellte zufrieden fest, dass sie die richtige Stelle markiert hatte. »Lass uns weitermachen.«
»Na schön«, seufzte Stig.
Dem Bericht zufolge war Kvam nur von vorn verletzt worden, was bedeutet, dass es ihm gelungen war, ins Wohnzimmer
zu flüchten. Maja leuchtete den Gang entlang und entdeckte weitere Blutspuren an der Wohnzimmertür.
»Warum ist er nicht Richtung Küche und Hintertreppe gelaufen?«, fragte Stig.
»Weil die hintere Tür mit einem Schnappschloss und einer Kette versehen ist. Er hätte mindestens fünfzehn bis zwanzig Sekunden gebraucht, um beides zu öffnen. In dieser Zeit hätte ihn sein Verfolger längst eingeholt.«
»Trotzdem, was wollte er im Wohnzimmer?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich glaube, er war in Panik und ist einfach losgerannt.«
Stig schien nicht überzeugt zu sein. »Leuchte mal hierher.«
Sie hob die Taschenlampe. Stig ging durch den Lichtkegel auf die Badezimmertür zu.
»Hier ist auch Blut.«
Er zeigte auf den Abdruck neben der Klinke, öffnete dann die Tür und schaltete das Licht im Badezimmer ein. »Und hier.«
Sie ging zu ihm und sah die rostroten Spuren, die sich an der Innenseite des Türrahmens befanden.
»Ich glaube, er ist ins Badezimmer geflüchtet, um sich dort zu verbarrikadieren«, sagte Stig.
»Warum ist er dann nicht dort drinnen getötet worden?«
Das war schwer zu sagen, aber die Blutspuren an der Innenseite konnten darauf hindeuten, dass ihn jemand herausgezerrt hatte.
Maja richtete den Lichtkegel auf den Boden. Stigs Vermutung schien durch die vielen Blutspritzer auf der FuÃbodenmatte bestätigt zu werden.
»Der Täter wollte Kvam also im Wohnzimmer haben?«
Stig nickte. »Sieht ganz so aus. Fragt sich nur, warum.«
Sie gingen wieder in Richtung Wohnzimmer. Maja wollte gerade die Tür öffnen, als sie ein heftiger Schwindel überfiel.
Der Boden schwankte unter ihren FüÃen. Sie klammerte sich an den Türgriff und versuchte ihre Atmung zu beruhigen, aber die Lungen wollten ihr nicht gehorchen. Stattdessen kam ihr alles wieder zu Bewusstsein: der Blutgeruch, ihre Angst vor der Dunkelheit, die dröhnende Marschmusik.
»Alles in Ordnung?«
Stig schaute sie besorgt an.
Sie öffnete die Augen, atmete tief durch und nickte. »Ich weiÃ, warum Kvam ins Wohnzimmer sollte.« Sie öffnete die Tür und erkannte die Konturen der umgeworfenen Möbel in der Dunkelheit.
»Warum?«, fragte Stig ungeduldig.
»Damit die Musik seine Schreie übertönte.«
Sie winkte Stig ins Wohnzimmer. Der Lichtkegel wanderte über die umgekippten Möbel, die genau so dalagen, wie Maja sie in Erinnerung hatte. Allerdings waren sie an den Stellen, an denen die Polizei nach Fingerabdrücken gesucht hatte, mit dickem Kohlenstaub bedeckt. Sie lieà das Licht für eine Weile auf der Stereoanlage ruhen, die auf dem Boden lag, und fragte sich, ob die Polizei die Kassette mitgenommen hatte. Sie stellte die kleine Musikanlage wieder richtig hin. »Die habe ich umgeworfen, als ich ihn gefunden habe.«
Sie drückte auf Play. Erneut wurde der Raum von Marschmusik erfüllt. Es war ein beklemmendes Gefühl, die Musik noch einmal zu hören, doch sie zwang sich dazu, die Kassette laufen zu lassen. »Die Kassette wurde an diesem Abend wieder und wieder gespielt.«
Stig warf einen Blick auf das Tapedeck. »Vielleicht ist sie immer wieder zurückgespult worden.«
Sie stellte die Musik leiser. »Kennst du die Musik?«
Stig schüttelte den Kopf. »Dieses Genre gehört nicht gerade zu meinen Hobbys. Aber ist es nicht merkwürdig, dass
die Polizei nicht auf den Tasten nach Fingerabdrücken gesucht hat?«
Maja nickte und stand vom Boden auf. Sie hielt die Taschenlampe auf die Zeichnung von Kvams Verletzungen und fragte sich, wie die nächste Phase seines Martyriums verlaufen war.
»Der Täter wollte ganz sichergehen, dass die Musik Kvams Schreie übertönen würde. Vielleicht hat er die Anlage
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