Die Anatomie des Todes
Wand hinter Titlands Schreibtisch zierte. Trotz seiner modernen, grellen Farbgebung erkannte sie das Motiv sofort wieder. Ursprünglich schmückte es die Vorderseite von Vesaliusâ berühmtem Buch über die menschliche Anatomie. Es zeigte eine Ansammlung von Gelehrten, die sich um Vesalius selbst scharten, der im Begriff war, die erste Obduktion der Geschichte vorzunehmen. Obwohl Maja um den historischen Stellenwert dieses Moments wusste, hatte sie das Bild nie gemocht â schon allein deshalb, weil die einzige Frau darauf der Leichnam war, der gerade geöffnet wurde.
Sie sah verstohlen zu Linz hinüber, dessen kalter Blick sie aber davon abhielt, ihn zu grüÃen.
»Die Klinik sieht sich mit einem bedauernswerten Problem konfrontiert«, begann Titland ohne Umschweife und lieà die Hände auf seinem voluminösen Bauch ruhen. »Mit einer äuÃerst heiklen Angelegenheit.«
»Aha«, entgegnete sie.
»Vielleicht sind Sie bereits über die Angelegenheit im Bilde?« Titland schaute sie freundlich an.
Sie runzelte die Stirn, als dächte sie über die Antwort nach. »Von welcher Angelegenheit sprechen Sie?«
Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, wie es in Linz zu brodeln begann. Titland räusperte sich, ehe er fortfuhr:
»Die Klinik wurde in groÃe Verlegenheit gebracht, weil vertrauliche Informationen â Informationen, die der
Schweigepflicht unterliegen â an die Presse weitergegeben wurden.« Titland machte eine strategische Pause und schaute sie mit seinen glasigen Augen an.
»Informationen, die nun die Ermittlungen der Polizei in einem Mordfall gefährden.«
»Das hört sich tatsächlich sehr schwerwiegend an.«
»Das ist es auch!«, brach es aus Joseph Linz heraus, der auf seinem Stuhl nach vorn schoss.
Titland fuhr mit ruhiger Stimme fort: »Wie dem auch sei, so müssen wir der Frage auf den Grund gehen, wer hier ⦠womöglich unwissentlich ⦠aus dem Nähkästchen geplaudert hat. Nur wenn wir wissen, wo das Leck entstanden ist, können wir das Verhältnis zu unseren Freunden bei der Polizei wieder einigermaÃen ins Reine bringen.«
Er bewegte seinen Kopf um wenige Millimeter zur Seite, doch Maja verstand, dass sein Lächeln Kommissar Blindheim galt, der schräg hinter ihr saÃ.
An Blindheims Funktion bei dieser Zusammenkunft bestand kein Zweifel. Er war die menschliche Ausgabe eines Lügendetektors. Jedes Zögern, jedes Herzklopfen und jede SchweiÃperle auf ihrer Stirn konnte er von seinem Platz aus ungestört registrieren und analysieren. Maja wagte nicht, sich umzudrehen. Stattdessen räusperte sie sich und sagte: »Ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen.«
»Dann erzählen Sie einfach die Wahrheit!«, forderte Linz sie unmissverständlich auf.
Maja schaute ihn an.
»Das hört sich ja so an, als ob Sie mich verdächtigen.«
Er hob anmaÃend die Schultern.
»In diesem Fall sollte ich vielleicht die Ãrztekammer informieren«, entgegnete er.
Titland streckte beschwichtigend die Arme aus. »Nicht so schnell, nicht so schnell. Niemand wird hier beschuldigt. Dies ist bloà ein ⦠kollegiales Gespräch, um Licht in die
unglückseligen Vorgänge zu bringen. Wir werden jede Unterstützung zu würdigen wissen, die wir von Ihnen und Ihren Kollegen, mit denen wir noch sprechen werden, erhalten«, sagte er mit salomonischem Lächeln.
Maja lächelte nicht zurück. Sie wollte ihnen nicht die Chance geben, sie noch mehr zu demütigen, indem sie bei einer Lüge ertappt wurde. Natürlich war die Lage sehr ernst und würde vermutlich mit ihrer Entlassung enden, wenn herauskam, dass sie an der Indiskretion beteiligt war. Ob darüber hinaus ihre Approbation auf dem Spiel stand, lag allein an den Männern, vor denen sie jetzt saÃ. In jedem Fall hoffte sie, Petra aus der Sache heraushalten zu können. Sie hatte zwar nicht um Kvams Obduktionsbericht gebeten, fühlte sich aber trotzdem indirekt verantwortlich.
Der Klinikdirektor öffnete die Akte, die vor ihm auf dem Tisch lag. Er drehte sie um 180 Grad und schob sie Maja entgegen.
»Ich weià nicht, ob Sie diesen Bericht schon einmal gesehen haben.«
Unnötigerweise beugte Maja sich vor. Die Skizze auf der Vorderseite von Kvams Obduktionsbericht war unschwer zu erkennen. Titland hatte ihr eine Falle gestellt.
»So weit ich sehe,
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