Die Anatomie des Todes
sich schützend vor den Bauch und lauschte angestrengt. In der Wohnung war es vollkommen still. Nur ihr eigenes Keuchen war zu hören sowie das klappernde Besteck, wenn sie sich bewegte. Maja drehte sich halb herum und spähte ins Wohnzimmer.
Der Lichtkegel war verschwunden. Alles lag wieder im Halbdunkel. Auch das brummende Motorengeräusch war nicht mehr zu hören. Zurück blieb nur ihre Angst.
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Von der Fensterbank aus beobachtete Maja dumpf den morgendlichen Verkehr. Sie hatte sich dort hingesetzt, nachdem der schwarze Van verschwunden war. Von hier aus hatte sie sowohl die StraÃe als auch den Vorgarten und den Weg im Auge, der hinter das Haus führte. Die Fensternische war ein perfekter Aussichtspunkt. Sie hatte vier Ritalin nehmen müssen, zwei davon, um der betäubenden Wirkung des Valiums entgegenzuwirken, und zwei weitere, um die Nacht ohne Schlaf zu überstehen. Sie stand auf und schlurfte in die Küche, um Teewasser aufzusetzen.
Sie dachte daran, wie sie Jan geholfen hatte, sich auf die Jagdprüfung vorzubereiten. Theoretisch betrachtet konnte sie jedem Jäger das Wasser reichen und hatte das Ãbungsheft besser beherrscht als Jan. Darum war ihr auch klar, dass ihre Jäger sie aus dem Dickicht gelockt hatten. Hätten sie ihr schon in der letzten Nacht Leid zufügen wollen, dann stünde sie jetzt ganz sicher nicht in der Küche und würde Honig in ihren Teebecher flieÃen lassen. Was sie am meisten erschreckte, war die Tatsache, dass ihr Besuch so rasch nach dem Verhör bei Titland erfolgt war. Konnte einer der drei Männer etwas mit der Sache zu tun haben?
Vielleicht war ihr Ziel, sie aus der Stadt zu vertreiben. Blindheim hatte ihr ja schon vor längerer Zeit zur Abreise geraten. Und dass Linz dasselbe im Sinn hatte, wurde schon dadurch deutlich, dass er am liebsten sofort rechtliche Schritte gegen sie eingeleitet hätte. Von diesen drei Männern war Titland der Einzige, der sich diesbezüglich nicht geäuÃert hatte.
So vorsätzlich und spektakulär der Mord an Kvam gewesen war, so verschwiegen und unauffällig war der Tod von
Jo Lilleengen. Es waren zwei Seiten derselben Medaille. Sie überlegte gerade, wie ihr eigener Tod wohl aussehen würde, als die Stille vom schrillen Läuten der Klingel auseinandergerissen wurde. Ihr Herz begann zu rasen.
Maja lief zum Fenster und hielt nach dem schwarzen Van Ausschau. Doch sie konnte ihn nirgends entdecken, wofür es zwei Erklärungen geben konnte: Entweder hatten sie in gröÃerer Entfernung von ihrem Haus geparkt, oder es handelte sich, was wahrscheinlicher war, nur um den Briefträger.
Aber sie durfte kein Risiko eingehen. Fragte sich bloÃ, wie sie sich am besten verteidigen konnte. Ob das Küchenmesser ihr gegen zwei kräftige Männer gute Dienste leisten würde, war zweifelhaft. Sie musste sie sofort auÃer Gefecht setzen und hatte plötzlich eine Idee.
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Maja öffnete die Wohnungstür und ging vorsichtig die Stufen hinunter. In der Vordertasche ihres Kapuzenpullis hielt sie ihre neue Waffe in der Hand, einen Injektor für subkutane Injektionen. In der Regel wurde ein solches Gerät von zuckerkranken Patienten benutzt, doch hatte sie es rasch zu einer gefährlichen Waffe umfunktioniert. Sie hatte es mit einer längeren Kanüle versorgt und das Insulin im Vorratsbehälter durch eine Fentanyllösung ersetzt â eine Substanz, die um ein vielfaches stärker als Morphium war. Sie musste ihrem Widersacher die Kanüle nur in die Halsschlagader rammen, das war alles. Dann würde die eingebaute Feder des Injektors die Kammer vollständig entleeren und die Substanz in die Blutbahn leiten.
Sie hatte sich sogar mit einer zweiten Fentanylampulle versorgt, damit sie den Injektor wieder aufladen konnte, wenn sie die Treppe hinaufflüchten würde.
Maja streckte ihre Fingerspitzen vorsichtig nach dem Schlüssel aus und drehte ihn behutsam im Schloss. Mit einem
leisen Klicken sprang es auf. Sie entfernte sich rasch von der Haustür, lief zwei Stufen nach oben und zog ihre Waffe aus der Tasche.
»Hallo?« Auf der Schwelle erschien ein strubbeliger Haarschopf.
»Stig?!« Maja senkte den Arm.
Stig lächelte sie zaghaft an und nickte dem Injektor zu.
»Vielleicht solltest du etwas anderes als einen Kugelschreiber zur Hand nehmen, um dich zu verteidigen.«
»Was zum Teufel tust du hier?« Sie sicherte den
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