Die Anatomie des Todes
Reinigung des Bodens war ihre letzte Amtshandlung im Skansen.
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In ihrem Wartezimmer drängten sich die Patienten. In dieser Hinsicht war sie froh, dass ihre Schichten für die Notaufnahme des Krankenhauses ein für alle Mal ein Ende hatten. Es gab eine Unmenge von Patienten, die krankgeschrieben werden wollten oder ein Attest brauchten, das ihnen die Befähigung zur Arbeit »auf See« bescheinigte. Vor allem diese sogenannten Offshore-Atteste nahmen eine gewisse Zeit in Anspruch, und musste man nur zwei oder drei am Tag ausschreiben, hatte das zur Folge, dass viele andere Patienten eine lange Wartezeit in Kauf nehmen mussten. In Wahrheit war die Offshore-Untersuchung nur ein erweiterter Gesundheitscheck, den jede Krankenschwester hätte durchführen können, doch in Anbetracht der 2500 Kronen, die jedes Attest einbrachte, würde die Mehrheit der allgemeinpraktizierenden Ãrzte niemals freiwillig darauf verzichten.
Auch ihre üblichen Methadonpatienten warteten bereits darauf, dass die Sprechstunde begann. Sie winkte Linda an der Rezeption zu, die ein Paar beneidenswerte rosa Kalbslederstiefel trug. Auch ihre blau lackierten Fingernägel waren nicht zu übersehen, als sie zurückwinkte.
Bis jetzt hatte sie noch nicht herausfinden können, ob die Kollegen schon wussten, dass sie im Skansen gefeuert worden war. Alle verhielten sich so wie immer. Abgesehen von Milten natürlich, der sie bereits am folgenden Tag angerufen und in prätentiösen Ton mitgeteilt hatte, was ihm zu Ohren gekommen war.
»Aber das soll Ihre Tätigkeit bei uns ja möglichst nicht beeinflussen«, hatte er mit seiner üblichen Flüsterstimme hinzugefügt. »Daher hoffe ich, dass Sie Ihre Lektion gelernt haben.« Tatsache war, dass Milten immer noch keinen Nachfolger für sie gefunden hatte und darauf angewiesen war, dass sie so lange blieb wie irgend möglich. Ihre weitere Anwesenheit in der Stadt war nicht mehr als eine Notlösung.
In der Mittagspause ging Maja in den Kopierraum, in dem sich ein Teil der Patientenunterlagen befand. Sie suchte gerade nach den Offshore-Attesten, als sie Stimmen aus dem Aufenthaltsraum hörte. Edel Raaholdt unterhielt ihre Kollegen mit den brandaktuellen Neuigkeiten, die sie von »höchster Stelle« â was in diesem Fall nur Milten bedeuten konnte â erfahren hatte. Sie begnügte sich nicht damit, über Majas Rausschmiss im Skansen zu berichten, sondern fand auch hinreichend Gelegenheit, über ihren Medikamentenmissbrauch herzuziehen. »Die ist doch völlig ungeeignet für diesen Job.«
Nur Linda verteidigte Maja und meinte, dass es sicher »dieser Journalist« gewesen sei, der sie gedrängt habe, den Obduktionsbericht zu beschaffen.
»Unsinn! Die ist einfach unberechenbar! Es ist unsere Pflicht, sie im Auge zu behalten. Schon aus Verantwortung den Patienten gegenüber.«
Maja hatte keine Lust, sich noch mehr anzuhören. Diese Praxis, ja das ganze Land, war verkommen. Oberflächlich betrachtet ein romantisches Idyll mit weiten Hochebenen, dem Singsang der Sprache und hübschen Stickereien auf
den Trachten. Doch blickte man nur wenige Millimeter unter diese Oberfläche, war alles verrottet.
Für den Rest des Tages ging sie ihren Kollegen aus dem Weg und widmete sich ausschlieÃlich ihren Patienten im Wartezimmer und dem Ritalin in ihrer Tasche. Ihr letzter Patient arbeitete ebenfalls auf einer Ãlplattform. Die harte körperliche Arbeit hatte ihn ausgelaugt. Wie er ihr auf seinem Stuhl gegenübersaÃ, mit den verblassten Tätowierungen auf den Unterarmen, seiner Lederweste, dem karierten Hemd und den ergrauenden Haaren, die er sich zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, erinnerte er an einen Rocker im Rentenalter. Doch offenbar war es sein gröÃter Wunsch, noch einmal in der Nordsee zu arbeiten, und zwar auf dem Stolz der norwegischen Nation, dem Erdgasfeld Ormen Lange. Alles, was ihn vom schwarzen Gold noch trennte, war der obligatorische Gesundheitscheck, der alle zwei Jahre anstand. Sie wusste, welche Einstellung der typische Bohrarbeiter zu dieser Untersuchung hatte. Sobald man ihre physische Leistungsfähigkeit in Zweifel zog, fühlten sie sich in ihrer männlichen Ehre gekränkt. Vor allem, wenn die Untersuchung von einer Frau durchgeführt wurde.
Am Anfang war es den Bohrarbeitern gelungen, Maja derart einzuschüchtern, dass sie die
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