Die andere Haut: Roman (German Edition)
Blick auf die Wellen tut Lara gut. Unendlich langsam schreitet sie ins Wasser, gräbt bei jedem Schritt ihre Füße tief in den Sand, genießt die Weite, den Salzgeschmack in der Luft und den leichten Wind auf ihrer Haut. Das Meer relativiert alles. So ist es immer. Schleift die Dinge glatt und rund, Perlmuttsplitter, Scherben, Verwirrungen und Ängste.
Als sie hüfthoch im Wasser steht, sinkt sie hinein, lässt sich umarmen und tragen, schwimmt und schwimmt, bis ihre Gedanken reingewaschen sind von allem Staub und sie eins ist mit sich und dem, was da kommen wird.
Am nahezu menschenleeren, matschigen Strand lässt sie sich später in der Sonne trocknen, starrt auf die sanft plätschernden Wogen und malt mit dem Finger Kreise in den Sand. Für einige Stunden ist sie erfüllt von einer tiefen Ruhe, ist ihr Körper frei von Bedürfnissen, kein Hunger, kein Durst, kein Verlangen nach fremder Haut. Ihr Herz ist ganz leicht und sie ist dankbar für diesen Tag, der nach Freiheit schmeckt und Frieden.
Hier ist Ricardo, was er auch in Deutschland war, eine romantische Erinnerung an vergangene Tage, wie ein verblasstes Foto oder ein Fläschchen mit glitzerndem Sand. Das sie hin und wieder hervorzieht, lächelnd und ein wenig sentimental, das jedoch ihr Leben nicht mehr berührt, sobald sie es zurück in die Schublade steckt.
Ein einsamer Händler stapft den Strand entlang und freut sich sichtlich, als er Lara entdeckt. Noch mehr, als er feststellt, dass er sie kaum zum Kauf überreden muss und sie nur träge ein wenig handelt, weil es eben dazugehört. Ihr ist völlig bewusst, dass sie einen zu hohen Preis zahlt für die Kette aus Muscheln und den Samen irgendeiner Pflanze, die der Verkäufer wortreich beschreibt. Lara hört kaum zu. Noch ein Teil für ihre Erinnerungsschublade. Ein Schmuckstück, das sie zu Hause kaum tragen wird. Kurz versucht der Händler, ihr weitere Ketten aufzuschwatzen, doch sie schüttelt den Kopf, danke, nein, die hier ist sehr schön, aber mehr davon brauche ich nicht.
Sie schließt die Augen und drückt mit den Fingern leicht auf die Lider. Als Kind hat sie das oft gemacht. Das durchscheinende Sonnenlicht verändert je nach Art des Drucks die Farbe, ein tanzender Regenbogen, tiefdunkles Rot und warmes Gelb, leuchtendes Orange und klares Blau, durchsetzt von zartem Violett, Grün, Türkis, Rosa und manchmal einfach eine schwarze Nacht voll prächtigweißer Sterne.
Später streift Lara ziellos durch die kleine Stadt. Jetzt am frühen Abend entwickelt sie doch ein gewisses Flair. Der Schein der Straßenlaternen hüllt die unscheinbaren Betonhäuser in schmeichelndes Licht, in den Straßencafés entspannen sich kleine Touristengruppen. Freundlich, aber unaufdringlich lächeln die Menschen ihr zu. Als sie an einem kleinen Internet-Café vorbeikommt, beschließt sie, endlich nach ihrer Post zu gucken. In den letzten Tagen hat sie kaum daran gedacht.
Eine E-Mail von David, zwei Tage alt, ihr wird ganz warm und sie fühlt seine Nähe über die Entfernung hinweg.
„Mein Schmetterling, wie geht es dir?“, liest sie. „Ich wünschte, du könntest sehen, wie schön es hier ist. Die Pflanzen, die Tiere, die Menschen – und dann die bunten Städte: Ich komme aus dem Fotografieren gar nicht mehr heraus! Du hättest wahrscheinlich schon längst unsere gesamte Reisekasse auf den Kopf gehauen, weil du dich ständig in Stoffe oder irgendeinen Kitschkram verlieben würdest. Jetzt musst du eben mit ein paar kleinen Mitbringseln vorlieb nehmen. Hast du deinen Ex-Latin-Lover schon gesehen? Ich bin ja doch ein wenig eifersüchtig, wenn ich daran denke. Wehe, du vergisst deinen Verlobten, der sich in der Ferne nach dir verzehrt! Hier laufen ja durchaus auch aparte Frauen herum, aber keine ist so hübsch wie du! Ich liebe dich, dein David“
Gerührt liest sie die Zeilen und in ihr keimt das schlechte Gewissen. David weiß von Ricardo und er weiß, dass sie ihn vielleicht treffen wollte, aber welch starke Gefühle diese einstige Sommerliebe wieder auslöst, hätte sie ja selbst kaum gedacht. Kaum dass sie im Flieger saß, nicht zu fassen.
Jetzt aber spürt sie den Unterschied zwischen diesen beiden Lieben, die beide wahrhaftig sind auf ihre Art und doch so unterschiedlich. Hier die Kraft und dort der Schwindel. Hier das Leben, dort das Spiel.
Langsam verfasst Lara ihre Antwort an David, sie will ehrlich zu ihm sein, aber kann sie ihm die Wahrheit schreiben? Wie sähe die denn aus? „Es hat mich umgehauen,
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