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Die andere Seite des Glücks

Die andere Seite des Glücks

Titel: Die andere Seite des Glücks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seré Prince Halverson
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doch ich blieb mit Zach zurück, der sofort einen Schreianfall bekam. Und zwar nicht nur, weil er keine Achterbahn fahren durfte, sondern weil er auch bei meiner Mutter bleiben wollte, die er in der letzten Woche mehr und mehr ins Herz geschlossen hatte.
    Zach war immer ein ganz gelassenes Kind gewesen, so dass ich wenig Erfahrung mit solchen Anfällen hatte – er schrie, hüpfte auf und ab und warf sich schließlich auf den Boden und wollte nicht wieder aufstehen. Die Leute blieben stehen und starrten uns kopfschüttelnd an. Ich stand einfach nur da. Was sagten die Experten in so einem Fall? Ich versuchte, mich an Ratschläge aus einem der Elternhefte zu erinnern, die ich im Wartezimmer des Arztes gelesen hatte. Weggehen? Ja, genau. Mit Hunderten Menschen drum herum. Nicht nachgeben. Nicht belohnen. Schließlich beugte ich mich zu ihm hinunter und schrie über sein Gezeter hinweg: »Zach! Hör mir zu! Hör auf zu schreien, dann kaufe ich dir noch eine Zuckerwatte! Was hältst du davon?« Er heulte weiter. »Zuckerwatte, Zach! Hast du verstanden?«
    Plötzlich hörte er auf zu weinen, wischte sich mit dem Arm über die Nase. »Und ein Slushee?«
    »Und ein Slushee.«
    Er stand auf und nahm meine Hand. »Kein Wunder«, sagte eine Frau, und ein Mann: »Gratuliere, Kumpel, hast deine Eltern gut im Griff.«
    Ich trat dicht vor den Kommentator mit dem aufgedunsenen, verschwitzten Gesicht und stieß zwischen den Zähnen hervor: »Er hat keine Eltern – Plural – mehr, Kumpel. Weil sein Vater nämlich gerade gestorben ist, Kumpel.«
    Wir gingen weg, ohne uns umzudrehen. Ich kaufte Zach eine weitere Zuckerwatte und ein Wassereis mit Kirschgeschmack, und bald waren seine Lippen so rot wie seine Augenränder.
    Als dann meine Mutter mit Zach einen Tisch ansteuerte, damit er den Süßkram in Ruhe fertig essen konnte, ging ich mit Annie zum Riesenrad. Keine Ahnung, wieso ich dachte, es könnte Spaß machen, in einem kochend heißen Metallkorb zu sitzen, jedenfalls taten wir genau das. Als dann die übellaunige Dame, die das Karussell bediente, das Rad plötzlich anhielt und ihren Platz verließ, saßen wir zehn Minuten lang fest und wünschten inständig, dass ein anderer Mitarbeiter übernehmen würde oder Gott uns wenigstens eine kühle Brise schickte oder besser noch einen Regenschauer. Wo war der Nebel, wenn man ihn brauchte? Jemand verkündete durch ein Megaphon, dass gleich ein Ersatz kommen würde. Toll. Während meines Studiums hatte ich in einer Arztpraxis gearbeitet, wo man uns beibrachte, zu sagen, der Arzt würde sich
gleich
um einen kümmern – niemals
in einer Minute
. Gleich war subjektiv, ohne konkreten Zeitrahmen.
    Anfangs hatte Annie mich noch frohgemut auf die verschiedenen Fahrgeschäfte hingewiesen und die Aussicht genossen, doch dann fing sie an zu jammern. »Wie lange denn noch? Ich muss Pipi. Ich hab Hunger. Mir ist heiß. Ich will nach Hause.«
    Ich wollte wissen: Wie konnte jemand einfach weggehen und uns mitten in der Luft hängen lassen? Aber das sollte ich vielleicht Paige fragen. Wie sagte man seinen kleinen Kindern und seinem Ehemann: »Ich will nicht mehr. Und tschüs«, ohne sich jemals umzudrehen? Sie einfach so hängenlassen, dass sie sich nicht vom Fleck rühren konnten, bis schließlich ein Ersatz namens Ella kam und die richtigen Knöpfe drückte. Die Ersatzmutter, die Ersatzfrau. War ich das für sie? War ich das? War das alles, was ich war? Aber nachdem ich zehn Minuten da oben gesessen hatte, liebte ich den Ersatz, der uns endlich erlöste. Ich hätte die Frau am liebsten umarmt, als sie uns schließlich unten absetzte, und sagte: »Vielen Dank! Ohne Sie hätten wir nicht überlebt.« Die Frau nickte gelangweilt und wies uns den Weg zurück zu den Menschenmassen. Annie sagte: »Mommy, warst du da eben nicht ein bisschen zu dramatisch?«
    Obwohl wir gerettet waren, ging es an dem Tag weiter bergab. Ich schleppte mich mit zusammengekniffenen Augen durch die Gegend. Die Sonne war zu grell, es gab zu viele Primärfarben, zu viel Lärm. Und mit den lautesten machte Zach, der jedes Mal, wenn meine Mutter seine Hand losließ, einen Trotzanfall bekam. Ihr Besuch der Toilette kostete mich einen Churro – spanisches Fettgebäck – und ein weiteres Slushee, diesmal mit Traubengeschmack.
    Auf dem Nachhauseweg blieben wir im Berufsverkehr stecken, der in der Bay Area mit dem stets wachsenden Einzugsgebiet bereits um drei Uhr nachmittags einsetzt. Die Kinder stritten sich um jedes Spielzeug wie

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