Die Anfänge meiner Welt
Mutter war maßlos enttäuscht, daß
er in die Fußstapfen seines Bruders trat, ihr Stolz auf ihn lag in Scherben,
und ihre stoische Resignation war schwer zu ertragen. Sie war viel zu
moralisch, um zu meinen, er solle ungestraft davonkommen, er würde in Schimpf
und Schande von der Schule abgehen müssen — das alles sah sie voraus, vom
ersten Moment an. Wie meine Eltern betrachtete sie uns als jugendliche
Delinquenten, die ihre Chance vertan hatten. Wir waren ebenso grundlos kriminell
wie die Kinder aus gutem Hause, von denen man in der Zeitung las, Teenager, die
Poststellen ausraubten oder Autos klauten, nur war es in unserem Fall das
Moralgesetz, und das war womöglich noch schlimmer. Zuerst verbot man uns jeden
Kontakt, aber das war sinnlos, wie mein Vater (mit angewidertem Achselzucken)
meinte, der Schaden sei nun einmal angerichtet. Die Vorstellung, daß wir es
ungestraft miteinander treiben könnten, war ihm schrecklich, aber er hätte sich
keine Sorgen zu machen brauchen. Wir waren selbst so fassungslos darüber, was
für einem bösen Zauber wir da zum Opfer gefallen waren, daß wir uns vorerst nur
zusammenkuschelten und einander wärmten, jeder des anderen einziger Freund.
Kleine Szenen tauchen wieder
auf: Vic und ich sitzen in Sunnyside am Rand der Kiesauffahrt und schauen ins
Leere, umklammern unsere Knie, werfen Steinchen. Das war, als ich ihm die
niederschmetternde Mitteilung machte und einen Moment lang inständig hoffte, er
würde sagen, es könne nicht sein. Und dann wir beide an einem noch trostloseren
Tag, wie wir eilig eine der neuen Straßen in der Wohnsiedlung zwischen seinem
und unserem Haus entlanggehen. Wir halten uns an den Händen, ich kaue ein
Aspirin gegen die Kopfschmerzen, und wir führen ein ernstes Gespräch,
verschwören uns.
Es gab keine gegenseitigen
Beschuldigungen. Ich sagte nicht, er hätte aufpassen müssen, er sagte nicht,
ich hätte ihn verführt. Wir waren unschuldig. Und je mehr wir redeten, desto
unschuldiger wurden wir — naive Kinder, Brüderchen und Schwesterchen, zwei
Waisen im Sturm.
Daß wir zur Verschwiegenheit
verpflichtet waren, hatte uns isoliert und in kampfbereiter Vertrautheit
zusammengesperrt, und von Zellengenossen wurden wir zu Seelenverwandten. Wir
dachten uns eine Geschichte aus, eine Ausrede zunächst, die aber bald ein
Eigenleben entwickelte. Sie ging ungefähr so: Das Kind war ein Unfall, aber im
Grunde hatten wir gewußt, was wir taten. Wir waren einer des anderen zweite
Hälfte. Wir waren eins, wir hatten die konventionellen Barrieren zwischen den
Geschlechtern abgeschafft. Ja, sicher, wir waren verliebt, aber darum ging es
nicht. Es war uns ernst. So verwandelte sich das Pech, das uns diesen
Streich gespielt hatte, in ein Omen. Es bewies, daß wir füreinander bestimmt
waren.
Unsere Eltern behandelten uns
wie verdorbene Kinder, wir aber bastelten uns aus Gedichten, Geschichten und
schierer Notwendigkeit einen neuen Mythos zusammen. Unsere Kopfgeburt. Diesmal
verführte ich ihn, soviel steht fest. Für diesen Mythos war ich verantwortlich,
ebenso wie andere, die nichts davon wußten, darunter Gail, Grandpa, Sartre und
Simone de Beauvoir, Miss Roberts, meine Lateinlehrerin, und Vics Freund Martin,
der Ampleforth hatte verlassen müssen, der in der sechsten Klasse
Bewußtseinsbildung betrieben und unserem Literaturkanon Oscar Wilde hinzugefügt
hatte.
Als der schmachvolle Herbst
1959 in den Winter überging, erfanden wir die Ehe neu, egal, was daraus werden
würde. Wenn wir heirateten, würden wir nicht mehr der Vormundschaft unserer
Eltern unterstehen. Natürlich brauchten wir ihre Zustimmung, und die wollten
sie uns auf keinen Fall geben — wir seien viel zu jung und verantwortungslos,
es hieße die Ehe entweihen. Außerdem wäre es eine Schande, wir wären wie
Ausgestoßene, weißer Abschaum, der letzte Dreck. Andererseits stand fest: Wenn
wir den Mut aufbrachten, zum Jugendamt zu gehen, würden wir die Erlaubnis
bekommen, weil ich schwanger war und unsere Familien nicht angesehen oder
wohlhabend genug waren, um mit ihren Einwänden durchzudringen. Und es würde im Whitchurch
Herald stehen.
Und wenn wir nach Gretna Green
durchbrannten ? Langsam und widerstrebend freundeten sich meine Eltern und auch
Vics Mutter mit dem Gedanken an: Wir würden heiraten, und Vic würde fürs erste zu
uns ziehen. Man wollte damit jedoch bis Weihnachten warten, es konnte ja
sein... Außerdem würden wir dann in den Ferien und damit etwas unauffälliger
von der
Weitere Kostenlose Bücher