Die Anfänge meiner Welt
Als mein Vater
mit der blau-grün-rot-weißen Lichterkette fertig war, ging er nach oben und
befestigte den Spiegel am Frisiertisch der neuen Schlafzimmergarnitur, die er
zusammen mit dem Baum auf dem Weihnachtsmarkt gekauft hatte. Sie trat an die
Stelle meines Einzelbettes und meiner Kommode und verdrängte das Bücherregal
mit meinen alten William-Büchern und den George Macdonalds. Mein Zimmer
verwandelte sich in eine kahlere Variante des Schlafzimmers meiner Eltern auf
der anderen Seite des Flurs, und so wurden Normalität und Wohlanständigkeit in
Sunnyside wiederhergestellt. Zum erstenmal schliefen Vic und ich im selben
Bett. Am Morgen, nachdem mein Vater zur Arbeit gegangen war, brachte meine
Mutter uns süßen Tee, und damit war alles geregelt. Vic gehörte zur Familie.
Das schloß natürlich die Möglichkeit ein, daß er deprimiert, unzufrieden, von
Mythen geplagt war und dergleichen. Wichtig war, daß er sich der allgemeinen
Verschwörung, die das Leben sinnvoll machen sollte, anschloß. Meine Mutter war
nicht umsonst Star der Theatergruppe des WI, sie verstand sich beängstigend gut
darauf, so zu tun, als sei nichts passiert. Sie muß sich diese Fähigkeit in
ihrer Kindheit und Jugend angeeignet haben, um all die mörderischen
Pfarrhauskräche zu überstehen. (Später einmal, als sie und mein Vater bei mir
waren, stritt ich mit ihm bis tief in die Nacht und verkündete in meinem
Rausch, daß ich nicht mit ihm unter einem Dach schlafen würde. Ich ging
hinaus und legte mich ins taufeuchte Gras — es war Hochsommer — , und am nächsten
Morgen stand doch wahrhaftig meine Mutter mit einer Tasse Tee vor mir.) The
Show must go on.
Vic lag an meinen Rücken
geschmiegt — oder ich an seinen — , und ich schlief zur Abwechslung einmal tief
und fest. Und ich träumte von einer weißen Fläche — einer Kinoleinwand, einer
Malerleinwand, einem Blatt Papier. Von einer Ecke aus läuft eine schwarze Linie
in Kurven immer weiter, schlängelt sich kreuz und quer, ein zielloses
Gekritzel, bis sie fast den ganzen Raum ausfüllt, nur ein winziger Lichtpunkt
ist noch übrig, und ich wache, nach Atem ringend, auf und suche das Rechteck
des Fensters. Die naheliegende Erklärung waren meine verstopften Nebenhöhlen,
die auf das lange Stilliegen sauer reagierten, ebenso wie mein schlafloses Ich.
Hatte Dr. McColl nicht gesagt, ich hätte mehr Zeit als andere? Jetzt hatte ich
sie plötzlich nicht mehr. Schlafen war gefährlich, es bedeutete Regression.
Nachdem Vic und ich so erfolgreich darum gekämpft hatten, als selbständig
anerkannt zu werden, schienen wir nun seltsamerweise kindlicher als zuvor.
Dieses Zusammenkuscheln unter der Decke in unserem eiskalten Schlafzimmer (alle
Schlafzimmer waren eiskalt) barg eine längst vergessene Erinnerung: Mein
kleiner Bruder Clive und ich steigen in The Arowry ins leere Bett meiner Eltern,
bauen uns unter ihrer bauschigen Nylonsteppdecke eine Höhle und dösen dort im
Warmen.
Inzwischen war es Clive, der
die augenfälligsten Symptome von Verstörung zeigte. Man hatte ihn auf eine neue
Schule in Whitchurch geschickt, eine Privatschule, damit er dort seine Lücken
im Rechnen, Schreiben und Lesen schloß, die der Lehrplan für die Hanmerschen
Mistgabelschwinger bei ihm hinterlassen hatte. Er haßte die Schule. Jeden
Nachmittag kam er wie ein Irrer ins Haus gepoltert und warf erst seine
Fußballsachen, dann seinen Ranzen und schließlich sich selbst in den Flur. Als
Vic und ich an jenem Dezembertag vom Standesamt zurückkamen, merkte man nur
Clive an, daß etwas Außergewöhnliches im Gange war: Er tanzte um uns herum, tat
so, als sei Vic ein Außerirdischer oder ein Frankenstein-Monster und zeigte in
gespieltem Schrecken auf ihn: »Es läuft! Es spricht!« Und so wurde Vic einer
von uns.
17
Crosshouses
Die Bezirkskrankenschwester,
die Grandma versorgte — nicht mehr Schwester Burgess mit ihren stumpfen Nadeln
und ihrer Hanmer-Vergangenheit, sondern eine jüngere, weniger kompakte Person —
, schüttelte den Kopf und sagte, man müsse Zusehen, daß sich das Baby drehe,
eine gute Hebamme könne das durch Massage erreichen. Doch in der
Schwangerenklinik in Shrewsbury wollte man nichts davon wissen. Es war, wie
sich herausstellte, eine Steißlage, »er« lag verkehrt herum und würde mit dem
Hinterteil voran zur Welt kommen. Dabei würde zwar sein Kopf nicht gequetscht
werden, aber für mich konnte es schwierig werden. Doch dann wurde mein
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